Das Erwecken des Genoms



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24.11.2022 20:00

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Das Erwecken des Genoms

Die Befruchtung einer Eizelle durch ein Spermium ist der Beginn neuen Lebens. Die mütterliche und väterliche Erbinformation, die DNA, wird neu kombiniert und speichert den Aufbau des Lebewesens. Sie liegt nach der Befruchtung noch inaktiv im Zellkern vor. Während die erste Teilung der befruchteten Eizelle noch mit Hilfe der in der Eizelle eingelagerten mütterlichen Faktoren funktioniert, ist für die weitere Entwicklung eines Embryos die Synthese neuer embryonaler Produkte notwendig, was den Zugang zur DNA des Embryos erfordert. Kikuë Tachibana und ihr Team am MPI für Biochemie haben nun gezeigt, dass der Pionierfaktor Nr5a2 die embryonale DNA aufweckt. Die Studie wurde in Science publiziert.

Der Beginn des Lebens ist ein faszinierender Vorgang in der Biologie. Die weibliche Eizelle wird durch Verschmelzung mit der männlichen Samenzelle befruchtet. Aus dieser ersten Zelle eines Embryos kann sich der gesamte Organismus entwickeln. Welche molekularen Prozesse finden in einer befruchteten Eizelle statt, damit diese Zelle das Potenzial hat, einen neuen Organismus hervorzubringen? Kikuë Tachibana, Direktorin am MPIB und Leiterin der Forschungsabteilung “Totipotenz”, geht dieser Frage zusammen mit ihrem Forschungsteam am Mausmodell nach.

Es ist bekannt, dass so genannte Pionierfaktoren an bestimmte Bereiche der inaktiven DNA binden, um sie zu aktivieren. Herauszufinden, welche Faktoren dies im Falle befruchteter Eizellen sind, war Gegenstand der aktuellen Studie. Für diese Forschung bedurfte es einer multidisziplinären Anstrengung der vier Erstautoren und ihrer sich ergänzenden Expertise. „Das Kernteam dieser Arbeit besteht aus Experten für Embryologie, Biochemie, Bioinformatik, Mikroskopie und Genomik. Nur gemeinsam waren wir in der Lage, Hinweise im Genom zu finden, den Transkriptionsfaktor Nr5a2 zu entdecken und den Mechanismus innerhalb und außerhalb der Zellen zu untersuchen”, sagt Tachibana.

Von der DNA zum Protein
Die Grundbausteine der DNA − Adenosin, Thymin, Guanin und Cytosin − kodieren wie in einer Bibliothek die Baupläne für alle im Organismus vorkommenden Proteine. Durch einen Prozess der Transkription werden bestimmte DNA-Abschnitte, auch Gene genannt, abgelesen und in Boten-RNA (mRNA) umgeschrieben. Anschließend werden auf der Grundlage der mRNA-Anleitung Proteine hergestellt. Anhand dieser molekularen Anleitungen werden unter anderem zelluläre Strukturen, Kanäle, Signalmoleküle oder molekulare Maschinen gebaut.

Siwat Ruangroengkulrith, Molekularbiologe und Bioinformatiker, erklärt: „Die genetische Information ist im Zellkern nicht einfach frei zugänglich. Sie liegt in Form eines langen DNA-Fadens vor, der wie eine Perlenkette um kleine Verpackungsproteine, die so genannten Histone, gewickelt ist. DNA und Histone sind so ineinander verdreht, dass der DNA-Faden bis zu 40.000-fach verkürzt ist. Das ist der Grund, warum wir die DNA unter dem Mikroskop als Chromosomen sehen können.“

Pionierfaktor Nr5a2
Pionierfaktoren haben die Fähigkeit, an dicht gepackte DNA zu binden. Sie gehören zu der großen Familie der Transkriptionsfaktoren. Sie binden an bestimmte Sequenzmuster auf der DNA, um das Ablesen der Gensequenz zu starten. Imre Gáspár, Experte für Mikroskopie und Bioinformatik, erklärt: „Wir haben nach einem gemeinsamen Sequenzmuster für die im frühen Stadium hergestellten mRNA-Moleküle gesucht und konnten mehrere Sequenzmotive finden. Die entdeckten Motive liegen nahe beieinander und bilden ein sogenanntes Supermotiv. Das neu entdeckte Supermotiv ähnelt dem bekannten Sequenzmotiv SINE B1-Element und ist sehr eng mit dem hochkonservierten ALU-Element im menschlichen Genom verwandt. Diese Elemente werden auch als ‘springende Gene’ bezeichnet, da sie sich in bestimmten Zellstadien, z. B. im frühen Embryo, von einer Position zu einer anderen Position im Genom bewegen können.“

An dieses Supermotiv bindet Nr5a2. Johanna Gassler, Embryologin, erklärt: „Ursprünglich wurde Nr5a2 in der Leber entdeckt. Im Bereich der Entwicklungsbiologie wusste man bislang über Nr5a2, dass er in der späten Phase der Einnistung des Embroys in die Gebärmutter wichtig ist. Wie wichtig Nr5a2 direkt nach der Befruchtung ist, war noch nicht bekannt. In unseren Experimenten konnten wir zeigen, dass der Großteil der frühen embryonalen mRNA-Moleküle nicht mehr produziert wird, wenn Nr5a2 blockiert wird. Außerdem werden die Embryonen in ihrer weiteren Entwicklung gehemmt. Dies zeigt, dass Nr5a2 eine zentrale Rolle in der frühesten Phase der Embryonalentwicklung spielt.“

Mit modernsten biochemischen und genomischen Methoden haben die Forscher untersucht, wie Nr5a2 während der frühen Entwicklung funktioniert. Wataru Kobayashi, Biochemiker, erklärt: „Wir haben experimentell gezeigt, dass Nr5a2 inaktive DNA-Regionen öffnen kann, wodurch Bereiche der DNA für nachfolgende Transkriptionsprozesse zugänglich werden.“ Auf diese Weise wird das Genom im Zweizellstadium aktiviert, und ein Embryo und schließlich ein voll lebensfähiger Organismus können sich entwickeln.

Tachibana blickt in die Zukunft: „Die Entdeckung, dass Nr5a2 ein Schlüsselfaktor für das Erwachen des Genoms ist, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem mechanistischen Verständnis des Beginns des Lebens. Es ist aber auch klar, dass es noch andere Faktoren geben muss, die dazu beitragen und die noch identifiziert werden müssen. Diese Arbeit liefert uns jetzt einen konzeptionellen Rahmen ‘ex uno plura’ (lat. viele aus einem), der erklären kann, wie die Transkriptionsaktivierung in frühen Embryonen robust erfolgt, um die Entwicklung zu einem ganzen Organismus zu gewährleisten.“


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Kikuë Tachibana, Ph.D.
Abteilung Totipotenz
Max-Planck-Institut für Biochemie
tachibana@biochem.mpg.de


Originalpublikation:

J. Gassler*, W. Kobayashi*, I. Gáspár*, S. Ruangroengkulrith*, A. Mohanan, L. Gomez Hernandez, P. Kravchenko, M. Kümmecke, A. Lalic, N. Rifel, R. J. Ashburn, M. Zaczek, A. Vallot, L. Cuenca Rico, S. Ladstätter, K. Tachibana#: Zygotic genome activation by the totipotency pioneer factor Nr5a2. Science, November 2022

* gemeinsame Erstautoren
# korrespondierende Autorin


Bilder

Der Pionierfaktor Nr5a2 (rot) bindet an die noch inaktive, um Histone (grau) gewickelte DNA, einer befruchteten Eizelle. So weckt er das Genom auf. Jetzt können Gene abgelesen werden, die für die Entwicklung eines Embryos notwendig sind.

Der Pionierfaktor Nr5a2 (rot) bindet an die noch inaktive, um Histone (grau) gewickelte DNA, einer b
Illustration: Max Iglesias
MPI für Biochemie

Drei der vier Erstautoren der aktuellen Studie, zusammen mit MPIB-Direktorin Kikuë Tachibana (v.l.n.r. Wataru Kobayashi, Siwat Ruangroengkulrith, Johanna Gassler, Kikuë Tachibana).

Drei der vier Erstautoren der aktuellen Studie, zusammen mit MPIB-Direktorin Kikuë Tachibana (v.l.n.
C. Menzfeld, MPI für Biochemie
MPI für Biochemie


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler
Biologie, Chemie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


 

Quelle: IDW