Das klügere Pflaster gibt nach



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29.03.2022 10:28

Das klügere Pflaster gibt nach

Mit einem Verband, der Medikamente freisetzt, sobald eine Infektion in einer Wunde beginnt, liessen sich Verletzungen effizienter behandeln. Empa-Forschende arbeiten derzeit an Polymerfasern, die weich werden, sobald sich die Umgebung aufgrund einer Infektion erwärmt, und dadurch ein keimtötendes Mittel abgeben.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Ob eine Wunde unter dem Verband problemlos verheilt oder Bakterien in das verletzte Gewebe eindringen und eine Entzündung entfachen, lässt sich von aussen nicht erkennen. Sicherheitshalber werden also desinfizierende Salben oder Antibiotika auf der Wunde verteilt, bevor ein Verband angelegt wird. Diese vorbeugenden Massnahmen sind aber nicht in jedem Fall notwendig. So werden Medikamente verschwendet und Wunden «übertherapiert».
Schlimmer noch: Der verschwenderische Umgang mit Antibiotika fördert die Entstehung von multiresistenten Keimen, die ein immenses Problem der globalen Gesundheitsversorgung darstellen. Empa-Forschende der beiden Empa-Labore «Biointerfaces» und «Biomimetic Membranes and Textiles» in St. Gallen wollen dies ändern. Sie entwickeln einen Verband, der selbstständig nur dann antibakterielle Medikamente verabreicht, wenn sie auch wirklich benötigt werden.
Die Idee des interdisziplinären Teams um Qun Ren und Fei Pan: Der Verband sollte mit Medikamenten «beladen» sein und zudem auf Umweltreize reagieren. «Auf diese Weise könnten Wunden präzise und im richtigen Moment behandelt werden», erklärt Fei Pan. Als Umweltreiz suchte sich das Team einen bestens bekannten Effekt aus: den Temperaturanstieg in einer infizierten, entzündeten Wunde.

Perfekte Mischung

Nun hiess es für das Team, ein Material zu designen, das auf diesen Temperaturanstieg passend reagieren würde. Hierzu wurde ein hautverträglicher Polymer-Verbundstoff aus mehreren Komponenten entwickelt: Acrylglas (Polymethylmethacrylat, kurz PMMA), das beispielsweise für Brillengläser und in der Textilindustrie verwendet wird, und Eudragit, ein bioverträgliches Polymergemisch, mit dem beispielsweise Tabletten überzogen werden. Mittels Elektrospinnen liess sich das Kunststoffgemisch zu einer feinen Membran aus Nanofasern verarbeiten. Als medizinisch wirksame Komponente konnte schliesslich Octenidin in die Nanofasern eingekapselt werden. Octenidin ist ein Desinfektionsmittel, das schnell gegen Bakterien, Pilze und manche Viren wirkt. In der Medizin kann es auf der Haut, auf Schleimhäuten und zur Wunddesinfektion verwendet werden.

Zersplitternder Handschuh

«Damit die Membran als “smarter Verband” wirkt und das Desinfektionsmittel auch tatsächlich freisetzt, wenn sich die Wunde aufgrund einer Infektion erwärmt, haben wir das Polymergemisch aus PMMA und Eudragit so zusammengestellt, dass wir die Glasübergangstemperatur passend einstellen konnten», sagt Empa-Forscher Fei Pan. Dabei handelt es sich um die Temperatur, bei der ein Kunststoff von einer festen Konsistenz in einen gummig-zähen Zustand wechselt. Bildlich beschrieben wird der Effekt gerne in umgekehrter Weise: Legt man einen Gummihandschuh in flüssigen Stickstoff bei minus 196 Grad, ändert er seine Konsistenz und wird so hart, dass man ihn mit einem Schlag wie Glas zersplittern lassen kann.
Die gewünschte Glasübergangstemperatur der Polymermembran hingegen lag im Bereich von 37 Grad. Wenn eine Entzündung vorliegt und sich die Haut über ihre normale Temperatur von 32 bis 34 Grad hinaus erwärmt, wechselt das Polymer von seinem festen in einen weicheren Zustand. In Laborexperimenten konnte das Team beobachten, wie das Desinfektionsmittel bei 37 Grad aus dem Polymer freigesetzt wird, nicht jedoch bei 32 Grad. Ein weiterer Vorteil: Der Prozess ist reversibel und kann bis zu fünf Mal wiederholt werden, da sich der Vorgang bei Abkühlung immer wieder von selbst «abschaltet». Nach diesen erfolgreichen Tests möchten die Empa-Forschenden nun das Feintuning des Effekts angehen. Statt eines Temperaturbereichs von vier bis fünf Grad soll der smarte Verband sich dann bereits bei kleineren Temperaturunterschieden an- und abschalten.

Smart und schonungslos

Um die Wirksamkeit der Nanofaser-Membranen gegenüber Wundkeimen zu untersuchen, stehen nun weitere Laborexperimente an. Teamleiterin Qun Ren befasst sich seit Langem mit Keimen, die sich in den Grenzschichten zwischen Oberflächen und der Umwelt einnisten, wie etwa auf einer Hautwunde. «In diesem biologischen Setting, einer Art Niemandsland zwischen Körper und Verbandsmaterial, finden Bakterien eine perfekte biologische Nische», so die Empa-Forscherin. Infektionserreger wie Staphylokokken oder Pseudomonas-Bakterien können hier schwere Wundheilungsstörungen verursachen. Genau diese Wundkeime liess das Team in der Petrischale Bekanntschaft mit dem smarten Verband machen. Und tatsächlich: Die Zahl der Bakterien verringerte sich um den Faktor 1000, wenn Octenidin aus dem smarten Verband freigesetzt wurde.
«Mit Octenidin ist uns ein “Proof of Principle” für die kontrollierte Medikamentenfreisetzung durch einen externen Reiz gelungen», so Qun Ren. Künftig lasse sich die Technologie auch für andere Arten von Medikamenten einsetzen, wodurch die Effizienz und Präzision bei deren Dosierung gesteigert werden könnte.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Katharina Maniura
Biointerfaces
Tel. +41 58 765 74 47
Katharina.Maniura@empa.ch

Prof. Dr. René Rossi
Biomimetic Membranes and Textiles
Tel. +41 58 765 77 65
Rene.rossi@empa.ch


Originalpublikation:

F Pan, A Amarjargal, S Altenried, M Liu, F Zuber, Z Zeng, RM Rossi, K Maniura-Weber, and Q Ren; Bioresponsive Hybrid Nanofibers Enable Controlled Drug Delivery through Glass Transition Switching at Physiological Temperature; ACS Appl. Bio Mater (2021); https://doi.org/10.1021/acsabm.1c00099


Weitere Informationen:

https://www.empa.ch/web/s604/smarte-pflaster


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin, Werkstoffwissenschaften
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW