Ethische Fragen bei virtueller Realität in der Medizin



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08.08.2019 15:54

Ethische Fragen bei virtueller Realität in der Medizin

Forscher des Universitätsklinikums Freiburg mahnt sensiblen Einsatz von Möglichkeiten virtueller Realitäten in der Medizin und der Pflege an / Publikation in Nature Medicine

Demenz, Angsterkrankungen, Schlaganfall: Das Spektrum möglicher Anwendungen virtueller Realität (VR) wächst rasant. So kann auf Demenzkranke im Pflegeheim eine Simulation ihrer ursprünglichen Umgebung beruhigend wirken. „Grundsätzlich lassen sich mittels Virtueller Realität positive Effekte erzielen“, sagt der Neurologe Dr. Philipp Kellmeyer, Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Freiburg und Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS). Doch er warnt auch: „Oft werden die besonderen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten unzureichend berücksichtigt. Wenn Demenzkranke beispielsweise nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können, ist das ein gravierender Eingriff in ihre Autonomie.“ Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden und der Schweiz hat er dazu am 29. Juli 2019 einen Artikel im Fachjournal Nature Medicine veröffentlicht.

„Die Grenze zwischen Realität und VR verschwimmt immer mehr“

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Auch in der Behandlung von Essstörungen, des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) und in der forensischen Psychiatrie werden VR-Anwendungen erprobt. „Zwar kann man sich grundsätzlich vorstellen, dass VR-Anwendungen sehr positive Effekte haben. Wie Virtuelle Realität kognitiv und emotional auf die Betroffenen wirkt, ist aber noch kaum untersucht. Und die Grenze zwischen Realität und VR verschwimmt immer mehr“, so Kellmeyer.

Der Neurologe sieht drei zentrale Risiken bei der Anwendung:
• Die Überzeugungskraft der VR-Simulation kann für therapeutische Zwecke genutzt werden, die letztlich auf einer Täuschung oder Illusion beruhen. Diese Instrumentalisierung schränkt die Autonomie der Patientinnen und Patienten ein und ist auch im Hinblick auf die Menschwürde mitunter problematisch.

• Die VR-Anwendung zielt auf eine Verhaltensänderung des Nutzers ab, der sich der Nutzer nicht entziehen kann. Dadurch ist die autonome Entscheidungsfindung gefährdet.

• Der Nutzer baut emotionale Bindungen zu virtuelle Figuren, sogenannten Avataren, auf und nimmt sie als vermeintliche reale Menschen an. Dies könnte einen sozialen Rückzug aus der realen Welt zur Folge haben.

Patienten frühzeitig in die Entwicklung einbeziehen

Diese Probleme lassen sich auf unterschiedliche Weise beheben. „Technologische Lösungen sollten nur da eingesetzt werden, wo die Probleme nicht politisch oder sozial gelöst werden können“, sagt Kellmeyer. Um neue Anwendungen stärker nutzerzentriert auszurichten, schlagen Kellmeyer und Kollegen vor, Patientinnen und Patienten frühzeitig in die Entwicklung einzubeziehen. „Wir sollten wegkommen von entwicklergetriebenen hin zu patientengetriebenen Innovationen.“


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. med. Philipp Kellmeyer, M.Phil.
Facharzt für Neurologie
Neuromedical Artificial Intelligence Lab
Klinik für Neurochirurgie
Universitätsklinikum Freiburg
Telefon: 0761 270-87570
philipp.kellmeyer@uniklinik-freiburg.de
http://www.ieeg.uni-freiburg.de/team/pkellmeyer


Originalpublikation:

Original-Titel der Publikation: Ethical tensions of virtual reality treatment in vulnerable patients
DOI: 10.1038/s41591-019-0543-y
Link zur Studie: https://www.nature.com/articles/s41591-019-0543-y


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Informationstechnik, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW