Intelligenzdefizit: Forscher schließen von der Maus auf den Menschen



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07.01.2021 17:12

Intelligenzdefizit: Forscher schließen von der Maus auf den Menschen

Einschränkungen in der Intelligenz, Bewegungsstörungen und Entwicklungsverzögerungen sind typisch für eine Gruppe seltener Erkrankungen, die zu den GPI-Ankerstörungen zählen. Wissenschaftler der Universität Bonn und des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik haben mit gentechnischen Methoden eine Maus erschaffen, die diese Patienten sehr gut nachbildet. Studien an diesem Tiermodell deuten darauf hin, dass bei GPI-Ankerstörungen durch eine Genmutation die Reizübertragung an den Synapsen im Gehirn beeinträchtigt ist. Die Ergebnisse sind im Fachjournal PNAS veröffentlicht.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Einschränkungen in der Intelligenz, Bewegungsstörungen und Entwicklungsverzögerungen sind typisch für eine Gruppe seltener Erkrankungen, die zu den GPI-Ankerstörungen zählen. Wissenschaftler der Universität Bonn und des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik haben mit gentechnischen Methoden eine Maus erschaffen, die diese Patienten sehr gut nachbildet. Studien an diesem Tiermodell deuten darauf hin, dass bei GPI-Ankerstörungen durch eine Genmutation die Reizübertragung an den Synapsen im Gehirn beeinträchtigt ist. Das könnte die mit der Krankheit verbundenen Einschränkungen erklären. Die Ergebnisse sind nun im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS)“ veröffentlicht.

Genauso wie Schiffe bei Sturm und Wellen am Grund festmachen, so sorgen GPI-Anker (GPI = Glycosylphosphatidylinositol) dafür, dass sich spezielle Proteine an der Außenseite lebender Zellen halten können. Funktioniert der GPI-Anker durch eine Genmutation nicht richtig, werden die Signalübertragung und der Transport zwischen den Zellen gestört. „GPI-Ankerstörungen umfassen eine Gruppe seltener Erkrankungen, die vor allem zu Intelligenzdefiziten und Entwicklungsverzögerungen führt“, sagt Prof. Dr. Peter Krawitz vom Institut für Genomische Statistik und Bioinformatik des Universitätsklinikums Bonn, der seine Forschung an der Charité – Universitätsmedizin Berlin begonnen und am UKB weitergeführt hat. Etwa 20 bis 30 Gene können bei den GPI-Ankerstörungen verändert sein.

Bei den meisten europäischen Patienten wurde eine Mutation im PIGV-Gen festgestellt. Es kodiert ein Enzym, das für die Produktion des GPI-Ankers von großer Bedeutung ist. Mit der Genschere CRISPR-Cas9 veränderten die Wissenschaftler zusammen mit ihren Kollegen vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin an Mäusen das PIGV-Gen nach dem Vorbild der Patienten. „Umfangreiche Verhaltentstests haben gezeigt, dass dieses Mausmodell die beim Menschen beobachtete Erkrankung sehr gut widerspiegelt“, sagt Miguel Rodríguez de los Santos vom Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik der Charité. Schon seit Jahren arbeitet er mit Prof. Krawitz zusammen und führt nun am Universitätsklinikum Bonn seine Forschung weiter.

Wie ähnlich ist die Maus dem menschlichen Vorbild?

In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der „Animal Outcome Core Facility“ des Exzellenzclusters Neurocure an der Charité wurden die Verhaltenstests bei den genveränderten Mäusen durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Tiere – genauso wie die Patienten – kognitive Defizite aufwiesen. Sie waren zum Beispiel deutlich schlechter in der räumlichen Orientierung als Mäuse ohne diese Mutation und zeigten Auffälligkeiten im Sozialverhalten. „Sie waren besonders kontaktfreudig – das haben wir nicht erwartet“, berichtet Rodríguez de los Santos.

Recherchen zeigten, dass auch Patienten mit GPI-Ankerstörungen teils diese Kontaktfreudigkeit aufweisen. Die PIGV-veränderten Mäuse zeigten außerdem Abweichungen beim Tag-Nacht-Rhythmus. „Bislang erschien dieses Symptom als nicht relevant, ist bei Patienten aber durchaus beschrieben“, sagt Krawitz. „Wir haben nun den seltenen Fall, dass wir durch die große Übereinstimmung von einem Mausmodell umgekehrt auf die Symptome von Patienten schließen und neu bewerten können.“

Fehlregulationen im Hippocampus

Aus Vorstudien wussten die Wissenschaftler, dass der Hippocampus bei den GPI-Ankerstörungen eine große Rolle spielt. Diese von der Form einem Seepferdchen sehr ähnliche Gehirnstruktur ermöglicht den Zugriff auf Gedächtnisinhalte. Die Wissenschaftler untersuchten Mikrogliazellen und subiculäre Neuronen aus dem Hippocampus der genveränderten Mäuse. Bei den Mikrogliazellen handelt es sich um Immunzellen des Gehirns, die Eindringlinge abwehren. Die subiculären Neurone sind für die Erinnerungsabfrage mit zuständig. „Viele Gene waren in diesen beiden Zelltypen fehlreguliert“, sagt Rodríguez de los Santos. Dies könnte erklären, warum die Mäuse bei den Tests Orientierungsprobleme hatten.

Wissenschaftler am Neurowissenschaftlichen Forschungszentrum der Charité untersuchten die elektrischen Felder im Hippocampus der genveränderten Mäuse. „Dabei zeigte sich, dass die Reizweiterleitung an den Synapsen beeinträchtigt war“, sagt Krawitz. Die Ergebnisse im Tiermodell deuten darauf hin, dass die bei den Patienten vorhandenen Intelligenzdefizite mit diesem Synapsendefekt zusammenhängen könnten. Zusammen mit Kollegen der translationalen Epilepsieforschung am Universitätsklinikum Bonn um Prof. Dr. Albert Becker stellten die Forscher außerdem fest, dass die transgenen Mäuse eine erhöhte Anfälligkeit für Epilepsien haben. Eine weitere Übereinstimmung mit dem Menschen: Etwa 70 Prozent der Patienten mit GPI-Ankerdefizienzen entwickeln Epilepsien – auch hierfür könnte der Synapsendefekt die Ursache sein. Krawitz: „Diese Beobachtungen und unser Mausmodell eröffnen vollkommen neue Möglichkeiten, in diese Richtung weiter zu forschen.“

Beteiligte Institutionen und Förderung

Neben der Universität Bonn waren an der Studie die Charité – Universitätsmedizin Berlin, die Berlin-Brandenburg School for Regenerative Therapies Berlin, das Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, die Universität Zürich, die Humboldt-Universität zu Berlin, The Jackson Laboratory for Genomic Medicine, Connecticut, die University of Connecticut und die Universitätsmedizin Göttingen beteiligt.

Die Studie erhielt finanzielle Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, den Europäischen Forschungsrat und die Berlin-Brandenburg School für Regenerative Therapies.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. med. Dipl. Phys. Peter Krawitz
Institut für Genomische Statistik und Bioinformatik
Universitätsklinikum Bonn
Tel. 0228/28714799
E-Mail: pkrawitz@uni-bonn.de


Originalpublikation:

Miguel Rodríguez de los Santos, Marion Rivalan, Friederike S. David, Alexander Stumpf, Julika Pitsch, Despina Tsortouktzidis, Laura Moreno Velasquez, Anne Voigt, Daniele Mattei, Melissa Long, Guido Vogt, Alexej Knaus, Björn Fischer-Zirnsak, Lars Wittler, Bernd Timmermann, Peter N. Robinson, Denise Horn, Stefan Mundlos, Uwe Kornak, Albert J. Becker, Dietmar Schmitz, York Winter, Peter M. Krawitz: A CRISPR-Cas9-engineered mouse model for GPI anchor deficiency mirrors human phenotype and exhibits hippocampal synaptic dysfunctions, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS), DOI: 10.1073/pnas.2014481118


Weitere Informationen:

https://www.pnas.org/content/118/2/e2014481118 Originalpublikation in PNAS


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW