Mini-Gehirnmodelle helfen, Autismus zu verstehen



Teilen: 

05.04.2022 17:00

Mini-Gehirnmodelle helfen, Autismus zu verstehen

ISTA-Wissenschafter:innen nutzen Gehirnorganoide, um zu verstehen, wie ein mutiertes Gen die Gehirnentwicklung beeinflusst. Studie in Cell Reports veröffentlicht.

Literature advertisement

Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Um die Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) besser zu verstehen, muss man die frühe Entwicklung des Gehirns genau beobachten. Da dies kaum möglich ist, greifen Forschende auf Organoide – Miniaturmodelle von Organen – zurück. Mit ihrer Hilfe entdeckten Wissenschafter:innen des Institute of Science and Technology Austria (ISTA), wie Mutationen in einem Hochrisiko-Gen für Autismus wichtige Entwicklungsprozesse stören.

Mehrere hundert Gene werden mit Autismus-Spektrum-Störungen in Verbindung gebracht. Einige Patient:innen sind nur leicht betroffen, während andere schwere Behinderungen aufweisen. Zusätzlich zu den charakteristischen Symptomen wie Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion und der Kommunikation mit anderen Menschen sowie repetitiv-stereotypen Verhaltensweisen, haben Patient:innen mit Mutationen des Gens CHD8 häufig auch geistige Behinderungen und Makrozephalie – ein ungewöhnlich großes Gehirn. Wie CHD8 diese Symptome verursacht, war lange Zeit unklar.

Winzige künstliche Gehirne

CHD8-Mutationen beeinträchtigen das Gehirn in einem sehr frühen Stadium seiner Entwicklung. Um zu verstehen, was dabei passiert, haben viele Forscher:innen in den letzten Jahren Mäuse als Modellorganismen verwendet. „Die Auswirkungen einer CHD8-Mutation bei Mäusen sind jedoch nicht mit denen beim Menschen vergleichbar. Wir haben eine Art menschliches Modell gebraucht“, erklärt Professorin Gaia Novarino.

Gemeinsam mit Kolleg:innen der in Mailand befindlichen Institute Human Technopole, European Institute of Oncology, der Universität Mailand und des US-amerikanischen Allen Institute for Brain Science verwendeten Novarino und ihr Team am ISTA sogenannte Organoide. Diese vereinfachten Miniaturversionen von Organen werden aus Stammzellen hergestellt, die die Fähigkeit haben, sich in fast jede andere Art von Zelle zu verwandeln. Indem sie Stammzellen unter optimalen Bedingungen mit den richtigen Zutaten zum genau richtigen Zeitpunkt versorgten, gelang es den Forscher:innen einfache Versionen von Gehirngewebe so groß wie Linsen zu schaffen. Damit konnten sie wichtige Prozesse nachahmen. „Organoide sind die einzige Möglichkeit, die Entwicklung des menschlichen Gehirns in einem so frühen Stadium zu untersuchen“, so Bárbara Oliveira, Postdoc in der Novarino-Gruppe und eine der Autorinnen der Studie.

CHD8-Mutationen bringen Neuronenproduktion durcheinander

In Petrischalen erzeugte das Team Gehirnorganoide mit und ohne Mutationen des Gens CHD8. „Nach einiger Zeit konnten wir mit bloßem Auge sehen, dass die mutierten Organoide viel größer waren. Das war der erste Beweis, dass das Modell funktioniert“, beschreibt ihr Kollege und Mitautor, der Doktorand Christoph Dotter. Wie bei Patient:innen mit einer CHD8-Mutation zeigten die Organoide Anzeichen für ein übermäßiges Wachstum des Gehirns.

Das Team identifizierte die verschiedenen Zelltypen der Organoiden und erkannte: Die mutierten Organoide begannen viel früher als die Kontrollgruppe, hemmende Nervenzellen zu produzieren. Sogenannte erregende Nervenzellen wurden dagegen erst später gebildet. Außerdem produzierten die mutierten Organoide viel mehr sich vermehrende, also proliferierende Zellen, die später die genannten Neuronen hervorbringen. Insgesamt, so schlussfolgerten die Wissenschafter:innen, führt dies dazu, dass die mutierten Organoide deutlich größer sind als die Kontrollgruppe, was mit der Makrozephalie der Patient:innen korreliert.

Wir beginnen, unser Gehirn zu verstehen

Wie frühere Studien der Novarino-Gruppe, zeigt auch ihre jüngste Studie, wie wichtig der Faktor Zeit bei der Untersuchung von Autismus ist. „Verschiedene Zeitpunkte zu untersuchen zeigt, dass das Endresultat möglicherweise nicht das vollständige Bild wiederspiegelt. Während sich das Gehirn von Patient:innen entwickelt, passiert noch viel mehr“, so Novarino. „Wir wissen immer noch nicht genau, wie sich unterschiedliche Entwicklungsverläufe auf die Funktionen des Gehirns auswirken.“ Um eines Tages Patient:innen mit einer CHD8-Mutation helfen zu können, müssen Forschende zunächst die Grundlagen der Gehirnentwicklung besser verstehen. Indem es ihnen gelungen ist, genetische und klinische Merkmale von Autismus-Patient:innen in Gehirnorganoiden nachzuahmen, hat die Novarino Gruppe einen wichtigen Beitrag dazu geleistet.

Projektförderung:

Der ISTA-Projektteil wurde mit Mitteln des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizont 2020 der Europäischen Union (ERC) und des österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) unterstützt.


Medienkontakt:

Lena Hallwirth
lena.hallwirth@ista.ac.at
+43 664 8832 6060

Über das ISTA

Das Institute of Science and Technology Austria (ISTA) ist ein Forschungsinstitut mit eigenem Promotionsrecht. Das Institut beschäftigt Professor:innen nach einem Tenure-Track-Modell und Post-Doktorand:innen sowie PhD-Student:innen in einer internationalen Graduate School. Neben dem Bekenntnis zum Prinzip der Grundlagenforschung, die rein durch wissenschaftliche Neugier getrieben wird, hält das Institut die Rechte an allen resultierenden Entdeckungen und fördert deren Verwertung. Der erste Präsident ist Thomas Henzinger, ein renommierter Computerwissenschafter und vormals Professor an der University of California in Berkeley, USA, sowie der EPFL in Lausanne. Ihm folgt ab dem Jahr 2023 Martin Hetzer. www.ista.ac.at


Originalpublikation:

Publikation:
Carlo E. Villa, Cristina Cheroni, Christoph Dotter et al. 2022. CHD8 haploinsufficiency links autism to transient alterations in excitatory and inhibitory trajectories. Cell Reports. DOI: 10.1016/j.celrep.2022.110615


Weitere Informationen:

http://doi.org/10.1016/j.celrep.2022.110615


Anhang

attachment icon Professorin Gaia Novarino


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW