Neue Hoffnung auf Progressionsverlangsamung bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS)



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11.09.2020 11:00

Neue Hoffnung auf Progressionsverlangsamung bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS)

11. September 2020 – Die Pathogenese der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) ist nicht vollständig geklärt. Derzeit steht lediglich das Medikament Riluzol zur Verfügung, um die Progression der Erkrankung etwas zu verlangsamen. Ansonsten bleibt den Behandlern nur die Option, die Betroffenen durch eine multimodale Supportivtherapie bestmöglich zu unterstützen. Die CENTAUR Phase-II-Studie [1] zeigte nun, dass die orale Gabe eines Kombinationspräparates der Substanzen Natriumphenylbutyrat und Taurursodiol eine Progressionsverzögerung bewirken könnte.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Die pharmakologische Therapie der ALS besteht bisher aus Riluzol, um den Erkrankungsverlauf zu verlangsamen, und weiteren Medikamenten, um belastende Symptome zu lindern.

In experimentellen Studien zu neurodegenerativen Erkrankungen konnte die Kombination von Natriumphenylbutyrat und Taurursodiol das Absterben von Neuronen verhindern, vermutlich indem bestimmte zelluläre Bestandteile (genauer: das endoplasmatische Retikulum) sowie die zelluläre Energieversorgung (Funktion der Mitochondrien) geschützt werden. Natriumphenylbutyrat ist das Natriumsalz einer Fettsäure (Phenylbuttersäure), es wird bislang erfolgreich bei pädiatrischen Stoffwechseldefekten eingesetzt. Taurursodiol ist eine Gallensäure mit bekannten zytoprotektiven bzw. anti-apoptotischen Eigenschaften (u. a. Stabilisierung von Protein-Faltung, „Chaperon-Effekt“). In klinischen Pilot-Studien wurde zuvor die Verträglichkeit von Natriumphenylbutyrat-Taurursodiol bei ALS-Patienten gezeigt.

In einer multizentrischen, doppelblinden und randomisierten Phase-II-Studie [1] in den USA erhielten nun 137 ALS-Patienten eine orale Medikamenten-Kombination von täglich 3 g Natriumphenylbutyrat und 1 g Taurursodiol (Verum-Gruppe, n=89; zunächst über drei Wochen einmal täglich, danach zweimal) – oder ein optisch und geschmacklich gleiches (als Pulver in Wasser gelöst) Placebo (Placebo-Gruppe, n=48). Die behandelten Patienten befanden sich im frühen oder mittleren Krankheitsverlauf (Diagnosestellung innerhalb der letzten 18 Monate). 77% der Patienten nahmen bereits Riluzol und/oder das Antioxidans Edaravone ein. Als primärer Studienendpunkt wurde im Verlauf über 24 Wochen der ALS-FRS-R-Score („Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating Scale-Revised”) ermittelt, der die motorische Funktionsfähigkeit von Menschen mit ALS erfasst (Werte von 0 bis 48; 0 entspricht einem Verlust der motorischen Funktionen). Nach 24 Wochen der Therapie zeigte sich eine signifikante Verlangsamung der ALS-FRS-R-Score-Verschlechterung; der absolute Unterschied betrug 2,32 Skalenpunkte. Der Unterschied in der monatlichen Abnahme der Punktzahl war ebenfalls signifikant (-1,24 Punkte in der Verum-Gruppe gegenüber -1,66 Punkte in der Placebo-Gruppe; p=0,03). Der Effekt war am ausgeprägtesten im Hinblick auf die feinmotorischen Fertigkeiten, wie die Autoren hervorheben.

Auch bei einer statistischen Berücksichtigung einer gleichzeitigen Einnahme von Riluzol (oder Edaravone, in der EU nicht zugelassen) zeigten die Studienergebnisse eine Verlangsamung der ALS in der Verum-Gruppe. Im Hinblick auf sekundäre Studienendpunkte (z. B. isometrische Muskelkraft, der ALS-Biomarker pNF-H im Blut, Lungenfunktion, Klinikaufenthalte) erbrachte die Therapie keinen Vorteil. Schwere unerwünschte Ereignisse traten bei 19% der Patienten der Placebo-Gruppe und bei 12% der Verum-Gruppe auf (pulmonale Komplikationen 8% und 3%). Insgesamt 25% der Patienten beendeten die Einnahme vorzeitig – die meisten aufgrund von gastrointestinalen Beschwerden; dies betraf aber auch 21% der Patienten in der Placebo-Gruppe.

„Mit dieser Phase 2-Studie kann die Wirksamkeit von Natriumphenylbutyrat und Taurursodiol noch nicht belegt werden, aber die Ergebnisse machen Hoffnung, dass künftig der Krankheitsverlauf der ALS herausgezögert werden kann“, kommentiert Prof. Dr. Thomas Meyer, ALS-Ambulanz der Charité Berlin. „Gerade der möglichst lange Erhalt von motorischen Alltagsfunktionen ist ein wichtiges Ziel neuer Medikamente und für die Lebensqualität der Betroffenen von höchster Relevanz.“

Literatur
[1] Paganoni S, Macklin EA, Hendrix S et al. Trial of Sodium Phenylbutyrate-Taurursodiol for Amyotrophic Lateral Sclerosis. N Engl J Med 2020 Sep 3; 383 (10): 919-930 doi: 10.1056/NEJMoa1916945.

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Originalpublikation:

doi: 10.1056/NEJMoa1916945.


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW