Neuer biochemischer Mechanismus bietet Ansatzpunkt für zukünftige Krebstherapien



Teilen: 

16.09.2020 13:15

Neuer biochemischer Mechanismus bietet Ansatzpunkt für zukünftige Krebstherapien

Forscher um Univ.-Prof. Dr. Bernd Moosmann, Institut für Pathobiochemie der Universitätsmedizin Mainz, haben in ihrer Studie „Prooxidative chain transfer activity by thiol groups in biological systems” herausgefunden, dass die Kettentransfer-Reaktion auch in lebenden Zellen existiert. Der Mechanismus der Kettentransfer-Katalyse ist seit den 1940er Jahren aus der Polymerchemie bekannt, wurde jedoch noch nie in einer lebenden Zelle beobachtet. Die in der Zeitschrift „Redox Biology“ veröffentlichten Erkenntnisse könnten langfristig dazu dienen, diesen Mechanismus medizinisch zu nutzen und neue Wirkstoff-Therapien zur Behandlung von parasitären Infektionen und bösartigen Tumoren zu entwickeln.

Warum ein Baustein des Lebens immer aus der Rolle fällt

Ob Bakterium, Pflanze oder Mensch – alles Leben nutzt dieselben 20 Aminosäuren zum Aufbau molekularer Strukturen. Die jeweilige Anzahl in den Zellen von diesen miteinander zu Ketten verknüpften Bausteinen unterscheidet sich kaum – mit einer Ausnahme: Cystein. Die Zellen meiden diesen schwefelhaltigen Proteinbestandteil, wenn ihre Lebensbedingungen sehr sauerstoffreich, also sehr oxidativ sind, und somit in der Umgebung mehr Sauerstoffradikale vorliegen. Die Ursache für diesen Effekt haben nun Wissenschaftler um Univ.-Prof. Dr. Bernd Moosmann vom Institut für Pathobiochemie der Universitätsmedizin Mainz herausgefunden. Wie die Forscher in der Zeitschrift „Redox Biology“ berichten, beschleunigt Cystein in lebenden Zellen die Weiterreichung von toxischen Radikalen von einem Molekül zum nächsten und wirkt damit für diese als „Kettentransfer-Agens“. Dadurch erhöht sich die toxische Wirksamkeit dieser freien Radikale in einer lebenden Zelle, was wiederum zu deren Tod führen kann. Die veröffentlichten neuen Erkenntnisse könnten langfristig dazu dienen, die Kettentransfer-Reaktion medizinisch zu nutzen und neue Wirkstoff-Therapien zur Behandlung von parasitären Infektionen und bösartigen Tumoren zu entwickeln.

Ein Nebenprodukt des menschlichen Stoffwechsels sind sogenannte (freie) Radikale. Diese sind meist giftig und spielen bei verschiedenen degenerativen Erkrankungen und beim Alterungsprozess eine Rolle. Meist wirken sie nur in der Zelle ihres Entstehens toxisch und greifen auch dort nur wenige Zielstrukturen an, bevor sie abgebaut werden. Wenn sie aber Zugang zu Strukturen und somit Angriffsflächen erhalten, die ihnen vorher räumlich oder zeitlich nicht zugänglich waren, können sie jedoch weitaus größere Schäden anrichten. Die Möglichkeit dazu erhalten sie durch den sogenannten Kettentransfer, einem Prozess, bei dem die Aktivität einer wachsenden Radikalkette auf ein anderes Molekül übertragen wird. Daher versuchen offenbar fast alle Zellen mit hohem Sauerstoffumsatz, die Kettentransfer-Reaktion zu unterdrücken, indem sie Kettentransfer-bewirkende Bausteine wie Cystein vermeiden, so die Erkenntnis der Mainzer Wissenschaftler.

Der Mechanismus der Kettentransfer-Katalyse ist seit den 1940er Jahren aus der Polymerchemie bekannt, wurde jedoch noch nie in einer lebenden Zelle beobachtet. Der nun von den Forschern in der Studie „Prooxidative chain transfer activity by thiol groups in biological systems” vorgelegte Nachweis, dass die Kettentransfer-Reaktion auch in lebenden Zellen existiert, könnte möglicherweise sogar medizinisch nutzbar sein.

Ansatzpunkt sind Mechanismen zur selektiven Tötung von pathologisch wirkenden Zellen, die in der Medizin eine große Bedeutung haben. Bei der medikamentösen Behandlung von Krebserkrankungen und parasitären Infektionen besteht eine der Herausforderungen darin, dass die zytotoxischen Wirkstoffe nur die krankmachenden Zellen abtöten sollen; die gesunden Zellen gilt es zu schonen. In der Kunststoffchemie gibt es nun verschiedenste synthetische Substanzen, die zum erwünschten und selektiven Kettentransfer bei der Herstellung von Kunststoffen eingesetzt werden. Möglicherweise könnten sich einige dieser Substanzen auch als Vorbild für zukünftige Medikamente eignen, und zwar gerade dann, wenn Zellen kontrolliert getötet werden sollen, die von vorneherein mehr Radikale produzieren, wie beispielsweise bei verschiedenen Krebserkrankungen. Aufgrund vielversprechender präklinischer Vorversuche hat die Universitätsmedizin Mainz die zugrundeliegende Technologie mittlerweile zum Patent angemeldet.

Die Förderinitiative “Experiment!” der Volkswagen-Stiftung, die radikal neue Forschungsvorhaben mit ungewissem Ausgang unterstützt, hat das hier vorgestellte Forschungsprojekt der Biochemiker Univ.-Prof. Dr. Parvana Hajieva und Univ.-Prof. Dr. Bernd Moosmann vom Institut für Pathobiochemie der Universitätsmedizin Mainz gefördert. An den Arbeiten waren auch Wissenschaftler der Präventiven Kardiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und des Fachbereichs Biologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) beteiligt.

Originalpublikation:
Sascha Kunath, Mario Schindeldecker, Antonio De Giacomo, Theresa Meyer, Selina Sohre, Parvana Hajieva, Clemens von Schacky, Joachim Urban, Bernd Moosmann. Prooxidative chain transfer activity by thiol groups in biological systems. Redox Biology 36, 101628 (2020).
DOI: doi.org/10.1016/j.redox.2020.101628

Weitere Informationen:
Bildunterschrift: Vergleicht man die relative Häufigkeit aller 20 Aminosäuren (durch Buchstaben abgekürzt) in Sauerstoff-nutzenden Bakterien mit der in nicht atmenden Bakterien, so fällt die Vermeidung von Cystein (C) als größte Abweichung sofort ins Auge.
Bildquelle: B. Moosmann (Universitätsmedizin Mainz)

Kontakt:
Univ.-Prof. Dr. Bernd Moosmann
Institut für Pathobiochemie, Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität
Telefon: 06131 39-26707 und -20186, Fax: +49 6131 39-20185
E-Mail: moosmann@uni-mainz.de

Pressekontakt:
Barbara Reinke, Unternehmenskommunikation, Universitätsmedizin Mainz,
Telefon: 06131 17-7428, Fax: 06131 17-3496, E-Mail: pr@unimedizin-mainz.de

Über die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist die einzige medizinische Einrichtung der Supramaximalversorgung in Rheinland-Pfalz und ein international anerkannter Wissenschaftsstandort. Sie umfasst mehr als 60 Kliniken, Institute und Abteilungen, die fächerübergreifend zusammenarbeiten. Hochspezialisierte Patientenversorgung, Forschung und Lehre bilden in der Universitätsmedizin Mainz eine untrennbare Einheit. Rund 3.400 Studierende der Medizin und Zahnmedizin werden in Mainz ausgebildet. Mit rund 8.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Universitätsmedizin zudem einer der größten Arbeitgeber der Region und ein wichtiger Wachstums- und Innovationsmotor. Weitere Informationen im Internet unter www.unimedizin-mainz.de


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Univ.-Prof. Dr. Bernd Moosmann
Institut für Pathobiochemie, Universitätsmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität
Telefon: 06131 39-26707 und -20186, Fax: +49 6131 39-20185
E-Mail: moosmann@uni-mainz.de


Originalpublikation:

Sascha Kunath, Mario Schindeldecker, Antonio De Giacomo, Theresa Meyer, Selina Sohre, Parvana Hajieva, Clemens von Schacky, Joachim Urban, Bernd Moosmann. Prooxidative chain transfer activity by thiol groups in biological systems. Redox Biology 36, 101628 (2020).
DOI: doi.org/10.1016/j.redox.2020.101628


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW