Neues Medikament für die akute Schlaganfall-Behandlung



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30.06.2022 09:00

Neues Medikament für die akute Schlaganfall-Behandlung

Berlin – Für die Therapie des akuten Schlaganfalls durch einen Gefäßverschluss bzw. Gerinnsel im Gehirn gilt „time is brain“ – d. h. jeder Zeitverlust muss vermieden werden. Sehr gute Ergebnisse liefert hier der Einsatz von speziellen Rettungswagen (mobilen Stroke Units), da schon „vor Ort“ mittels CT die Diagnosesicherung erfolgt und eine Gerinnsel-auflösende Thrombolysebehandlung begonnen werden kann. Die TASTE-A-Studie [1] legt nun erstmals zusätzliche Vorteile der Substanz Tenecteplase gegenüber Alteplase nahe.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

In Deutschland erleiden jährlich 270.000 Menschen einen Schlaganfall [2]. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei um sogenannte ischämische Schlaganfälle – d. h. ein Gehirnareal wird nicht mehr (ausreichend) durchblutet. Die Behandlung zielt darauf ab, die Durchblutung so schnell wie möglich wiederherzustellen, damit die Gehirnzellen in der betroffenen Region durch die Ischämie nicht dauerhaft geschädigt werden und es nicht zu bleibenden Behinderungen kommt („time is brain“). Die medikamentöse Auflösung der Gerinnsel über die Blutbahn (systemische Thrombolyse, kurz Lyse) sollte bis spätestens 4,5 Stunden nach Symptombeginn erfolgen.

In einigen Ländern, auch in verschiedenen deutschen Städten wie z.B. Berlin, gibt es spezialisierte Rettungswagen, sogenannte Stroke-Mobile oder mobile Stroke-Units (MSU), die mit einem CT-Gerät ausgerüstet sind, um vor Ort bereits mit einer adäquaten Bildgebung die Diagnose zu sichern und ohne Zeitverlust die Thrombolyse beginnen zu können. Das Standardmedikament für die Thrombolyse ist Alteplase, ein gentechnisch hergestelltes Fibrinolytikum (rekombinanter Gewebsplasminogenaktivator (rtPA -„recombinant tissue-type plasminogen activator“).

Die Substanz Tenecteplase (TNK-t-PA) ist ein modifiziertes Molekül mit größerer Fibrinspezifität und längerer Halbwertszeit, wodurch möglicherweise die Reperfusion und das klinische Outcome verbessert werden. Ein weiterer Vorteil der Substanz, gerade auch für den Einsatz im Stroke-Mobil oder auch bei Notfallverlegungen zwischen Kliniken, ist die einmalige Bolusgabe. Alteplase wird dagegen als Infusion über eine Stunde verabreicht. Bei der Behandlung von Herzinfarkten ist Tenecteplase seit über 20 Jahren im Einsatz; für die Schlaganfall-Behandlung fehlt es jedoch noch an Vergleichsdaten. Derzeit ist Tenecteplase in Deutschland nicht zur Behandlung des Schlaganfalls zugelassen.

Die randomisierte, kontrollierte Phase-2-Studie TASTE-A („Tenecteplase versus Alteplase for Stroke Thrombolysis Evaluation Trial in the Ambulance”) [1] aus Australien verglich nun den Einsatz beider Substanzen nach CT in der mobilen Stroke-Unit hinsichtlich einer sehr frühen zerebralen Reperfusion bei Ankunft in der Klinik. Fünf Kliniken in Melbourne nahmen daran teil. Insgesamt 104 Patientinnen und Patienten (≥18 Jahre), die innerhalb des Zeitfensters von 4,5 Stunden nach Symptombeginn von einer MSU erreicht wurden, konnten nach Bestätigung des ischämischen Schlaganfalls und bei Eignung für eine Thrombolyse eingeschlossen und analysiert werden. Sie erhielten bei Abfahrt in die Klinik entweder gewichtsadaptiert die Standarddosis von Alteplase (0,9 mg/kg, maximal 90 mg, 10% als Bolus i.v. über eine Minute und nachfolgend 90% als einstündige Infusion) oder Tenecteplase (0,25 mg/kg, maximal 25 mg, verabreicht als i.v.-Bolus über 10 Sekunden). Primäres Outcome war das Ausmaß bzw. das Volumen der zerebralen Läsion (d. h. des nicht- oder minderdurchbluteten Hirnareals) bei Ankunft in der Klinik im Perfusions-CT. Als sekundäres Outcome wurden die Änderung der Symptomatik bzw. die Änderung des NIHSS-Scores („National Institutes of Health Stroke Scale”) vom Eintreffen der MSU bis zur Klinikeinlieferung herangezogen sowie im Langzeitverlauf ein schlechtes funktionelles Outcome oder Tod innerhalb von 90 Tagen (mRS-Score 5-6). Das Sicherheits-Outcome beinhaltete außerdem symptomatische intrazerebrale Blutungen sowie Blutungen jeder Art innerhalb von 36 Stunden. Die Studie war zwar grundsätzlich eine open-label-Studie, jedoch waren die Ärztinnen und Ärzte, die die Betroffenen in der Klinik übernahmen und den klinischen Verlauf nachverfolgten, nicht informiert, welches Medikament die Patientinnen und Patienten erhalten hatten.

Im Ergebnis erhielten zwischen Juni 2019 und November 2021 von insgesamt 104 Betroffenen 55 Tenecteplase und 49 Alteplase. Das mediane Alter lag bei 73 Jahren (IQR 61-83), der mediane NIHSS-Score bei 8 (IQR 5-14), einem mittelschweren Schlaganfall entsprechend. Die mediane Dauer vom Behandlungsbeginn bis zum Eintreffen in der Klinik lag bei 47 Minuten.

Bei der Ankunft in der Klinik wiesen Betroffene in der Tenecteplase-Gruppe signifikant geringere Perfusionsschäden auf als jene mit Alteplase (median 12 ml [IQR 3–28] vs. 35 ml [18–76]; p=0,003). Der mediane NIHSS-Score hatte sich bei Ankunft in der Klinik nach Tenecteplase auf 5 (3-11) verbessert gegenüber 6 (2-16) nach Alteplase. Nach 90 Tagen hatten nach 8/55 Personen (15%), die Tenecteplase erhalten hatten, und 10/49 Personen (20%) nach Alteplase ein ungünstiges Outcome (mRS-Score 5-6; adjustierte OR 0,7; statistisch aber nicht signifikant; p=0,45). In beiden Gruppen waren gab es je fünf Todesfälle (p=0,88). Schwere Nebenwirkungen und unerwünschte Ereignisse traten in der Tenecteplase-Gruppe bei 5/55 (5%) und in der Alteplase-Gruppe bei 8/49 (8%) auf. Innerhalb von 36 Stunden gab es keine symptomatischen intrazerebralen Blutungen.

„Die Studie zeigte nicht nur den Vorteil des Beginns der Lysetherapie bereits im Stroke Mobil, sondern legt erstmals auch eine Überlegenheit von Tenecteplase gegenüber Alteplase im Hinblick auf das klinische Ergebnis nahe“, so Prof. Dr. med. Heinrich Audebert, Leiter des mobilen Stroke Unit Projektes in Berlin. „Die Substanz ist womöglich effektiver. Der Vorteil kann aber auch der Bolusgabe geschuldet sein. Das Medikament ist dadurch schneller vollständig im Blutkreislauf als bei Infusion des herkömmlichen Medikaments. Das zeigt, dass wir jede Möglichkeit ausschöpfen müssen, um die Zeit zwischen Symptombeginn und dem Zeitpunkt, zu dem die Gerinnsel-auflösenden Medikamente ihre Wirkung im Körper entfalten, zu minimieren.“

[1] Bivard A, Zhao H, Churilov L et al. Comparison of tenecteplase with alteplase for the early treatment of ischaemic stroke in the Melbourne Mobile Stroke Unit (TASTE-A): a phase 2, randomised, open-label trial. Lancet Neurol 2022 Jun; 21 (6): 520-527 doi: 10.1016/S1474-4422(22)00171-5. Epub 2022 May 4.
[2] Ringleb P., Köhrmann M., Jansen O., et al.: Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls, S2e-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 29.06.2022)

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Originalpublikation:

doi: 10.1016/S1474-4422(22)00171-5.


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW