Phantastische Muskelproteine und wo sie zu finden sind



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19.06.2020 12:56

Phantastische Muskelproteine und wo sie zu finden sind

Der Versuch, alle Proteine des Sarkomers, der kleinsten funktionellen Einheit von Muskelzellen, zu katalogisieren führte zu überraschenden Einsichten. Eine neue Studie in Nature Communications trägt dazu bei, die molekularen Grundlagen der Arbeit von Herz- und Skelettmuskeln besser zu verstehen.

Forscherinnen und Forscher am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) haben ein neuartiges Mausmodell entwickelt, das es ermöglicht in einen arbeitenden Muskel hineinzusehen: So identifizierten sie Proteine, die das Sarkomer benötigt, um sich zusammenzuziehen, zu entspannen, den Energiebedarf zu kommunizieren und sich an mechanische Belastung anzupassen. Sie kartierten die Proteine des Sarkomers, ausgehend von der „Z-Scheibe“, der Grenze zwischen benachbarten Sarkomeren. Das allein war bereits ein bedeutender Fortschritt in der Untersuchung der quergestreiften Muskulatur.

Dabei machten sie eine unerwartete Entdeckung: Myosin, eines der drei Hauptproteine, aus denen die quergestreiften Muskelfasern bestehen, scheint in die Z-Scheibe einzutreten. Bisherige Modelle für das Zusammenspiel zwischen Myosin, Aktin und dem elastischen Gerüstprotein Titin haben diese Möglichkeit bisher außer Acht gelassen. Erst vor Kurzem haben Forscher*innen aus Stuttgart und Jena vorgeschlagen, dass Myosinfilamente in die Z-Scheiben-Struktur eindringen könnten. Bislang wurde dafür jedoch noch kein experimenteller Nachweis erbracht.

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Hier geht es weiter …

„Selbst Myosinforscher werden von den Ergebnissen überrascht sein“, sagt Professor Michael Gotthardt, Leiter der Arbeitsgruppe „Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie“ über die Studie, die nun in Nature Communications erschienen ist. „Damit können wir die Grundlagen der Muskelkontraktion auf molekularer Ebene besser verstehen.“

Wer ist beteiligt?

Zu Gotthardts Team gehören die Erstautorinnen Dr. Franziska Rudolph und Dr. Claudia Fink, sie wurden von weiteren Kollegen und Kolleginnen am MDC und an der Universität Göttingen unterstützt. Das ursprüngliche Ziel war nicht die Bestätigung der Theorie, sondern die Charakterisierung der Proteinzusammensetzung der Z-Scheibe. Hierzu entwickelten sie ein Mausmodell mit einem künstlichen Enzym namens BioID, das sie in das Riesenprotein Titin einfügten. Anschließend markierte Titin-BioID Proteine in der Nähe der Z-Scheibe.

Sarkomere sind winzige molekulare Maschinen voller Proteine, die eng zusammenarbeiten. Bisher war es unmöglich, die spezifischen Proteine anzureichern, die sich in den einzelnen Teilregionen befinden, insbesondere im aktiven Muskel. „Mit Titin-BioID konnten wir unvoreingenommen die Proteinzusammensetzung spezifischer Regionen der Sarkomerstruktur untersuchen“, sagt Dr. Philipp Mertins, Leiter der MDC-Arbeitsgruppe Proteomik. „Das war bisher nicht möglich“.

Das Team hat BioID erstmals bei lebenden Tieren unter physiologischen Bedingungen eingesetzt und so 450 Proteine identifiziert, die mit dem Sarkomer in Verbindung stehen. Rund die Hälfte dieser Eiweiße war bereits bekannt. Hinsichtlich der Sarkomerstruktur, Signalübertragung und Stoffwechsel entdeckte das Team auffällige Unterschiede zwischen Herz- und Skelettmuskulatur – und zwischen erwachsenen und neugeborenen Mäusen. Letzteres deutet darauf hin, dass bei adultem Gewebe Leistung und Energieerzeugung optimiert werden, während der Schwerpunkt bei Neugeborenen auf Wachstum und Umbau liegt. „Wir wollten wissen, wer mitspielt“, sagt Gotthardt. „Mit den meisten beteiligten Proteinen haben wir gerechnet, das bestätigt unseren Ansatz.“

Die Überraschung

Das Protein, das sie in der Z-Scheibe nicht erwartet hatten, war Myosin, welches an der gegenüberliegenden Seite des Sarkomers sitzt. Wenn ein Muskel sich bewegt, schiebt sich Myosin an Aktin vorbei und bringt benachbarte Z-Scheiben näher zusammen. Das Gleiten der Aktin- und Myosinfilamente erzeugt die Kraft, die für die Pumpfunktion des Herzens, eine aufrechte Körperhaltung oder das Heben von Gegenständen wichtig ist.

Diese sogenannte „Gleitfilamenttheorie“ beschreibt die Krafterzeugung im Sarkomer und veranschaulicht das Zusammenspiel zwischen Kraft und Sarkomerlänge. Gängige Modelle haben jedoch Probleme das Verhalten von vollständig kontrahierten Sarkomeren vorherzusagen. Bei diesen Modellen wurde angenommen, dass Myosin maximal bis an die Z-Scheibe reicht, während es sich an Aktin entlangschiebt. Es gab zwar Hinweise dafür, dass Myosin sich weiter bewegt. „Aber wir wussten nicht, ob wir in unseren gefärbten Gewebeproben ein Abbild der Wirklichkeit sehen oder einen Artefakt“, sagt Gotthardt. „Mit BioID sitzen wir quasi an der Z-Scheibe und beobachten die vorbeiziehenden Myosin-Filamente.“

Gotthardt unterstützt die Theorie, dass die Kontraktion durch das Eindringen des Myosins in die Z-Scheibe gebremst oder abgeschwächt wird. Damit könnten die anhaltenden Diskussionen um die Berechnung der Kraftentwicklung in Abhängigkeit von der Sarkomerlänge beendet werden. Vielleicht hat das Team die Grundlage gefunden, um ein präziseres Modell des Sarkomers zu entwickeln oder für weitere Überlegungen, wie der Muskel vor einer zu starken Kontraktion geschützt werden kann.

Wichtige Grundlage für künftige Therapien

Mit einem verbesserten Verständnis der molekularen und mechanischen Grundlagen der Muskelkontraktion lassen sich Rückschlüsse auf Krankheitsmechanismen ziehen, wie bei Muskelschäden, Muskelerkrankungen oder altersbedingtem Muskelschwund. Sobald bekannt ist, welche Proteine Probleme verursachen können, bieten sich neue Ziele für die Behandlung von Muskel- oder Herzerkrankungen.

Als nächstes planen Gotthardt und sein Team, BioID bei der Untersuchung von Tieren mit Muskelschwund einzusetzen. Sie wollen dann Proteine identifizieren, die daran beteiligt sind Muskelzellen zu schwächen und sich für neue therapeutische Ansätze eignen. „Vielleicht finden wir Proteine, die im gesunden Muskel nicht zum Sarkomer gehören. Die wären dann ein Teil des Problems“, erklärt Gotthardt. „Mit BioID können wir sie identifizieren und der Therapieentwicklung zugänglich machen.“

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)

Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) wurde 1992 in Berlin gegründet. Es ist nach dem deutsch-amerikanischen Physiker Max Delbrück benannt, dem 1969 der Nobelpreis für Physiologie und Medizin verliehen wurde. Aufgabe des MDC ist die Erforschung molekularer Mechanismen, um die Ursachen von Krankheiten zu verstehen und sie besser zu diagnostizieren, verhüten und wirksam bekämpfen zu können. Dabei kooperiert das MDC mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin und dem Berlin Institute of Health (BIH) sowie mit nationalen Partnern, z.B. dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DHZK), und zahlreichen internationalen Forschungseinrichtungen. Am MDC arbeiten mehr als 1.600 Beschäftigte und Gäste aus nahezu 60 Ländern; davon sind fast 1.300 in der Wissenschaft tätig. Es wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin finanziert und ist Mitglied in der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren. www.mdc-berlin.de


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Professor Michael Gotthardt
Gruppenleiter “Neuromuskuläre und kardiovaskuläre Zellbiologie
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)
+49-309-406-2245
gotthardt@mdc-berlin.de


Originalpublikation:

Franziska Rudolph et al. (2020): „Deconstructing sarcomeric structure–function relations in titin-BioID knock-in mice“, Nature Communications, DOI: 10.1038/s41467-020-16929-8


Weitere Informationen:

https://www.mdc-berlin.de/news/press/fantastic-muscle-proteins-and-where-find-th… Pressemitteilung auf der MDC-Website
https://www.mdc-berlin.de/gotthardt (Gotthardt Lab)
https://www.mdc-berlin.de/news/press/tracking-titin-real-time (PM: Titin in Echtzeit verfolgen)


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW