Zum Zerreißen gespannt



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08.05.2020 11:44

Zum Zerreißen gespannt

Ein Riss im Sneaker, ein geplatzter Reifen – Materialermüdung ist ein alltägliches Phänomen und tritt immer zur Unzeit auf. Oftmals sorgt das nur für Ärger, zuweilen kann es aber auch tödliche Folgen haben. Doch während das Phänomen bei synthetischen Materialien inzwischen gut erforscht ist, liegen die Gründe für Ermüdungserscheinungen im Gewebe von Säugetieren noch weitgehend im Dunkeln. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Heidelberger Instituts für Theoretische Studien (HITS) konnte nun nachweisen, welche negativen Auswirkungen mechanische Belastung auf Kollagengewebe hat. Die Ergebnisse der Studie können wichtige Impulse für Materialforschung und Biomedizin liefern.

Es ist seit langem bekannt, dass synthetische Polymere unter mechanischer Belastung sogenannte Mechanoradikale bilden, die durch den Bruch chemischer Bindungen entstehen. Aber werden diese schädlichen und hochreaktiven Radikale auch in Gewebe erzeugt, das einer starken Belastung ausgesetzt ist?

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Forschungsgruppe “Molekulare Biomechanik” am HITS gingen dieser Frage am Beispiel von Kollagen nach, dem Protein, das uns im wahrsten Sinne des Wortes im Innersten zusammenhält, indem es unserem Bindegewebe in Knochen, Bändern und Haut strukturelle und mechanische Stabilität verleiht. “In dieser Rolle ist es fortwährender mechanischer Belastung ausgesetzt und somit der perfekte Kandidat für unsere Studie”, so Frauke Gräter, Forschungsleiterin am HITS. Zusammen mit Kollegen aus Homburg, Frankfurt und Seattle zeigte ihr Team in einer Reihe speziell entwickelter Experimente, dass Kollagen unter exzessiver mechanischer Belastung Radikale produziert. Diese Erkenntnis war insofern entscheidend, als Radikale dafür bekannt sind, im Körper Schäden und oxidativen Stress hervorzurufen.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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“Wir konnten die Sehne eines Rattenschwanzes gleichzeitig in die Länge ziehen und mithilfe des Elektronenspinresonanz-Verfahrens messen. Dadurch war es möglich die Radikale, die beim Ziehen entstehen, zu quantifizieren.”, erläutert Christopher Zapp, Doktorand in Gräters Team, den Versuchsaufbau. Zusätzlich durchgeführte Molekulardynamik-Simulationen einer Kollagenfibrille, bestehend aus Millionen von Atomen, bestätigten die Ergebnisse: Chemische Verbindungen brechen, wenn Kollagen gedehnt wird. Die entstehenden schädlichen Radikale werden jedoch umgehend von benachbarten aromatischen Seitenketten abgefangen. “Wir haben in Kollagen nicht nur stabile Radikale gefunden, sondern auch modifizierte Seitenketten, sogenannte DOPAs. Diese Modifikation schützt die Kollagenstruktur vor weiteren Schäden.” Die DOPA-Radikale schließlich werden in Wasserstoffperoxid umgewandelt, einem wichtigen Signalmolekül im Körper. Daraus folgt, dass Kollagen nicht nur die Kräfte überträgt, sondern auch die daraus entstehenden Konsequenzen steuern kann.
“Es war eine Herausforderung, die eigenartigen Radikalsignale in dem gedehnten Biomaterial richtig zu deuten”, fügt Reinhard Kappl von der Abteilung für Biophysik der Universität des Saarlandes und Mitautor der Studie hinzu. “Für ein vollständiges Bild bedurfte es der gebündelten Expertise verschiedener Forschungsgruppen.”

Die Resultate legen nahe, dass Kollagen sich im Körper zu einer Art „Radikalschwamm“ entwickelt hat. “Unsere Studie zeigt, dass Kollagen sich selbst vor Radikalen schützt. Wird dieser Mechanismus jedoch überdehnt, kann es zu oxidationsbedingten Schädigungen kommen, von Schmerzen bis hin zu Entzündungen”, fasst Agnieszka Obarska-Kosinska vom HITS zusammen.

Die Ergebnisse könnten nicht nur eine Erklärung dafür liefern, warum Fußballspielen zuweilen sehr schmerzhaft sein kann, sie liefern auch vielversprechende Ansätze für eine bessere Regeneration und Transplantation von Gewebe, zum Beispiel in der Sportmedizin.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Frauke Gräter https://www.h-its.org/de/people/prof-dr-frauke-grater/


Originalpublikation:

https://www.nature.com/articles/s41467-020-15567-4
DOI: https://doi.org/10.1038/s41467-020-15567-4


Weitere Informationen:

https://www.h-its.org/de/2020/05/08/zum-zerreisen-gespannt/ Pressemitteilung des HITS


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Chemie, Informationstechnik, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW