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16.12.2025 16:52
Hat Kultur als archäologisches Konzept ausgedient?
Philosophisch-archäologische Studie erkundet die Bedeutung eines umstrittenen Begriffs und verknüpft ihn mit gegenwärtigen Debatten.
Der Begriff der Kultur hat in der archäologischen Forschung einen schlechten Ruf – aus gutem Grund. Der deutsche Archäologe Gustaf Kossinna vertrat im frühen 20. Jahrhundert die Vorstellung, dass archäologische Kulturen mit rassisch und ethnisch abgrenzbaren Völkern gleichzusetzen waren. Letztendlich versuchte er auf dieser Grundlage die Geschichte der seiner Ansicht nach allen anderen Völkern überlegenen Germanen zurückzuverfolgen – ein Ansatz, den die nationalsozialistische Propaganda nur zu gern als pseudo-wissenschaftlichen Begründung für ihre rassistische Ideologie und ihre Vernichtungskriege ausschlachteten.
„Seit dem Zweiten Weltkrieg ist der Begriff Kultur in der Archäologie deshalb mit großem Unbehagen behaftet. Gleichzeitig ist er aber immer noch sehr präsent, wie sich in Bezeichnungen wie der jungsteinzeitlichen Trichterbecherkultur zeigt“, erklärt die Archäologin Johanna Brinkmann. Zusammen mit dem Philosophen Vesa Arponen hat sie diesen Widerspruch im Rahmen des Exzellenzclusters ROOTS an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel untersucht. In der Fachzeitschrift „Germania“ stellen beide jetzt ihre Ergebnisse vor.
Die beiden kommen zu dem Schluss, dass der Kulturbegriff in der Archäologie nicht nur auf einer, sondern auf insgesamt drei Säulen ruht. „Eine davon besteht aus den Vorstellungen Kossinnas. Wir nennen sie die die völkische, romantische und nationalistische Säule. Sie ist wissenschaftlich nicht haltbar und damit für die weitere Forschung untauglich“, sagt Vesa Arponen.
Eine weitere Säule besteht allerdings aus Kultur-evolutionären Vorstellungen. „Hier wird Kultur als ein fortlaufenden Vorgang, bei dem kulturelle Fähigkeiten – von handwerklichen Fertigkeiten bis hin zu Gedanken und Ideen – von Generation zu Generation weitergegeben werden“, erklärt Johanna Brinkmann.
Die dritte Säule, die Brinkmann und Arponen „Kulturalismus“ nennen, steht den Kultur-evolutionären Annahmen typischerweise skeptisch gegenüber – „der Kulturalismus neigt dazu, diese als reduktionistisch und umweltdeterministisch zu betrachten“, erklärt Arponen. Für den Kulturalismus besteht Kultur vielmehr aus jeweils eigenwilligen Formen, die sich nicht auf universelle Muster reduzieren lassen. Gleichzeitig neigt auch der Kulturalismus dazu, Kultur als etwas zu betrachten, das aus menschlichen Ideen und Praktiken besteht, die etwa für Menschen in bestimmten Gemeinschaften spezifisch sind und von Generation zu Generation weitergegeben werden können.
Neben diesen zusätzlichen Säulen, die aus sehr gegensätzlichen Ansätzen bestehen, arbeiten die Autorin und der Autor fünf Kernpunkte heraus, die typischerweise mit Kulturen verbunden werden. „Wir stellen uns vor, dass Menschen an bestimmten Orten leben – dort, wo ihre Siedlungen, Gebäude und andere feste Einrichtungen zu finden sind. Gleichzeitig sehen wir sie nicht nur als Einzelpersonen, sondern als Mitglieder von Gruppen, die auf unterschiedliche Weise etwa anthropologisch, soziologisch oder archäologisch zusammengefasst werden können. Diese Gruppen geben ihre Ideen und Gewohnheiten sowohl an die nächste Generation als auch an andere Gemeinschaften weiter. Was dabei weitergereicht wird, umfasst nicht nur Gegenstände und materielle Dinge, sondern auch die Überzeugungen, Werte und Bedeutungen, die für die Menschen wichtig sind. Diese fünf Aspekte – Ort, Gruppe, Weitergabe, materielle Kultur und Ideen – finden sich allen drei Grundpfeilern des Kulturbegriffs wider, wenn auch mit manchmal sehr unterschiedlichen Auffassungen. . Sie bilden den Kern unseres Verständnisses von Kultur“, so Johanna Brinkmann, „das erklärt, warum der Begriff der Kultur bei der Erforschung der Vergangenheit immer noch so mächtig ist, obwohl eine seiner Säulen mittlerweile weggebrochen ist.“
Die Frage, ob und wie der Begriff der Kultur belastet und für die Forschung zu menschlichen Gemeinschaften tauglich ist, verknüpft die ferne Vergangenheit auch mit der Gegenwart. Denn der Begriff der Kultur ist heute wichtig für unsere gesellschaftliche Positionierung, aber auch bei Diskussionen um Polarisierung. „Regelmäßig verwenden wir heute Begriffe wie Kulturkampf oder „Cancel Culture“, um zeitgenössische gesellschaftliche Positionen, Identitätsgruppen und Ähnliches zu beschreiben“, sagt Vesa Arponen. Die Studie, im Rahmen des Reflective Turn Forums im Exzellenzcluster ROOTS entstand, liefert so auch eine Diskussionsgrundlage für Debatte zur gegenwärtigen Gesellschaft. „Damit schlagen wir den Bogen zur Toleranzforschung, die an der CAU mit der DFG-Forschungsgruppe Toleranz ebenfalls stark vertreten ist“, betont der interdisziplinär arbeitende Philosoph. Neben seiner Tätigkeit in ROOTS leitet Arponen auch ein philosophisches Teilprojekt in der Toleranzgruppe „Die Schwierigkeit und Möglichkeit von Toleranz: Die vielfältigen Herausforderungen des Konzepts und der Praxis von Toleranz“ an der CAU Kiel.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Vesa P. J. Arponen
Philosophisches Seminar/Exzellenzcluster ROOTS an der CAU
varponen@roots.uni-kiel.de
Johanna Brinkmann
Institut für Ur- und Frühgeschichte der CAU
j.brinkmann@ufg.uni-kiel.de
Originalpublikation:
Johanna Brinkmann, Vesa P. J. Arponen: Tackling an old dilemma anew: a reflective modular approach for analysing the concept of archaelogical cultures in European Prehistoric Archaeology. Germania 102, 2024 (2025), https://doi.org/10.11588/ger.2024.113886
Weitere Informationen:
https://www.uni-kiel.de/de/cluster-roots/detailansicht/news/222-kultur-archaeolo… Originalmeldung auf den Seiten des Exzellenzclusters ROOTS an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
https://www.uni-kiel.de/de/cluster-roots/forschung/reflective-turn-forum Das ROOTS Reflective Turn Forum
https://www.uni-kiel.de/de/gruppen/for5472 Die DFG-Forschungsgruppe Toleranz
Bilder
Typische Keramik der ersten Landwirtschaft betreibenden Menschen in Mittel- und Nordeuropa. Bis heut …
Quelle: Sara Jagiolla
Copyright: Uni Kiel
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Geschichte / Archäologie, Philosophie / Ethik
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch



