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13.12.2025 00:30
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‚Wissenschaft‘, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Blutzucker normalisieren, Herzinfarkt-Risiko halbieren
Erstmals belegt eine internationale Analyse: Wenn Menschen mit Prädiabetes ihren Blutglukosewert durch Lebensstiländerung wieder in den Normalbereich bringen, halbiert sich ihr Risiko für Herzinfarkt, Herzschwäche und frühen Tod. Diese Erkenntnis könnte die Prävention revolutionieren – und ein neues, messbares Ziel für die Leitlinien etablieren. An der Studie waren Forschende des Universitätsklinikums Tübingen, von Helmholtz Munich und des Deutschen Zentrums für Diabetesforschung (DZD) beteiligt.
Millionen Menschen in Deutschland leben mit erhöhten Blutglukosewerten, ohne es zu wissen. Sie gelten damit als „prädiabetisch“ – ein Frühstadium, das bislang ohne klar definiertes Therapieziel blieb. Menschen mit Prädiabetes erhalten in der Regel die Empfehlung, Gewicht zu verlieren, sich mehr zu bewegen und sich gesünder zu ernähren. Diese Lebensstiländerungen sind sinnvoll: Sie verbessern Fitness, Wohlbefinden und verschiedene Risikofaktoren. Doch eine entscheidende Frage blieb bislang offen: Schützen sie das Herz auch langfristig? Bisher konnte kein Lebensstilprogramm für Menschen mit Prädiabetes überzeugend zeigen, dass es Herzinfarkte, Herzschwäche oder kardiovaskuläre Todesfälle über Jahrzehnte hinweg nachhaltig reduziert.
Durchbruch in der Präventionsforschung
Eine gemeinsame Auswertung zweier der weltweit größten Diabetespräventionsstudien – aus den USA und China – bringt nun Klarheit. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA und China konnten Forschende des DZD, des Universitätsklinikums Tübingen und von Helmholtz Munich zeigen: Entscheidend ist offenbar nicht die Lebensstiländerung an sich, sondern ob es Menschen mit Prädiabetes gelingt, dadurch ihre Blutglukosewerte wieder in den Normalbereich zu bringen – mit anderen Worten, ob sie eine Remission des Prädiabetes erreichen.
Halbiertes Risiko für Herz und Gefäße
Die Langzeitdaten von mehr als 2.400 Menschen mit Prädiabetes belegen: Menschen, denen es gelingt, ihren Blutglukosewert zu normalisieren, haben ein deutlich geringeres Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu sterben oder wegen Herzschwäche ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, als diejenigen, deren Glukosewerte erhöht bleiben – selbst dann, wenn beide Gruppen in ähnlichem Ausmaß an Gewicht verlieren.
In beiden Studien war für die Teilnehmenden das Risiko kardiovaskulärer Todesfälle um rund 50 % geringer, auch die Sterblichkeit insgesamt sank signifikant. Die amerikanische Studie beobachtete ihre Probanden über einen Zeitraum von 20 Jahren, ihr chinesisches Pendant sogar über 30 Jahre. Unter Führung des Tübinger Teams wurden diese Datensätze harmonisiert und erneut ausgewertet, um Raten von kardiovaskulärem Tod und Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz bei Personen mit und ohne Prädiabetes-Remission zu vergleichen.
Ein neues, messbares Ziel für die Medizin
Bisher stützt sich die Herz-Kreislauf-Prävention auf drei Säulen: Blutdruckkontrolle, Senkung des LDL-Cholesterins und Rauchstopp. Mit den neuen Erkenntnissen könnte ein vierter Pfeiler hinzukommen: die nachhaltige Normalisierung der Blutglukose bei Prädiabetes. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Remission des Prädiabetes nicht nur – wie bereits bekannt – den Ausbruch eines Typ-2-Diabetes verzögert oder verhindert, sondern Menschen auch langfristig vor schweren Herzkreislauferkrankungen schützt – und zwar über Jahrzehnte hinweg“, sagt Prof. Dr. Andreas Birkenfeld, Vorstandsmitglied des DZD und Ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik IV am Universitätsklinikum Tübingen. Ein nüchterner Blutglukosewert von ≤ 97 mg/dl erwies sich als einfacher Marker für ein dauerhaft geringeres Herzrisiko – unabhängig von Alter, Gewicht oder ethnischer Herkunft. Diese Schwelle könnte weltweit in der Hausarztpraxis Anwendung finden und so die Prävention greifbarer machen.
Deutschland im internationalen Vergleich abgeschlagen
Deutschland hinkt bei präventiver Gesundheitsversorgung hinterher. Laut dem aktuellen Public Health Index belegt das Land den vorletzten Platz von 18 untersuchten europäischen Ländern bei der Umsetzung wissenschaftlich fundierter Präventionsmaßnahmen. Dies hat zur Folge, dass das Risiko in Deutschland an einer Herzkreislauf-Erkrankung zu versterben signifikant erhöht ist im Vergleich mit europäischen Nachbarn.
Die neue Studie zeigt, welches Potenzial ungenutzt bleibt – und wie konkrete Zielwerte die öffentliche Gesundheit entscheidend verbessern können. „Wir sehen ein klares therapeutisches Fenster: Wenn die Glukosewerte bereits im Stadium des Prädiabetes normalisiert werden, kann das langfristige Risiko für Herzinfarkt, Herzinsuffizienz und vorzeitigen Tod deutlich reduziert werden. Unsere Daten sprechen dafür, Remission ausdrücklich als primäres Therapieziel in Leitlinien zur Prävention von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu verankern“, appelliert Prof. Dr. Birkenfeld.
Titel der Originalpublikation: Elsa Vazquez Arreola et al.: Prediabetes Remission and Cardiovascular Morbidity and Mortality: A post-hoc analysis from DPPOS and DaQingDPOS. The Lancet
DOI: https://doi.org/10.1016/S2213-8587(25)00295-5
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Andreas L. Birkenfeld
Ärztlicher Direktor
Universitätsklinikum Tübingen, Abteilung Innere Medizin IV
E-Mail: andreas.birkenfeld@med.uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Elsa Vazquez Arreola et al.: Prediabetes Remission and Cardiovascular Morbidity and Mortality: A post-hoc analysis from DPPOS and DaQingDPOS. The Lancet
DOI: https://doi.org/10.1016/S2213-8587(25)00295-5
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