Teilen:
12.12.2025 08:21
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‚Wissenschaft‘, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Gefühle spielen mit bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen
Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen (CED) leiden oft auch zwischen den akuten Entzündungsschüben der Krankheit unter Bauchschmerzen. Das könnte damit zu tun haben, dass sich bei den Betroffenen die Art und Weise verändert, wie Schmerz in Abhängigkeit von Furcht verarbeitet wird. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsteam der Ruhr-Universität Bochum um Dr. Hanna Öhlmann. Die Forschenden haben die Schmerzwahrnehmung von gesunden und an CED erkrankten Personen in einem Lernexperiment verglichen. Basierend auf den Ergebnissen empfehlen sie die Entwicklung personalisierter Therapien, die solche psychologischen Mechanismen mitberücksichtigen.
Die Studie ist am 26. November 2025 in der Fachzeitschrift „PAIN“ erschienen: https://journals.lww.com/pain/fulltext/9900/fear_induced_hyperalgesia_in_quiesce…
Der Zusammenhang von Furcht und Schmerz
„Die Tatsache, dass Patientinnen und Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oft auch in Ruhephasen der Erkrankung Symptome wie Bauchschmerzen erleben, deutet darauf hin, dass neben akuten Entzündungsprozessen andere Mechanismen den Schmerz aufrechterhalten“, sagt Hanna Öhlmann aus dem Zentrum für Medizinische Psychologie und Translationale Neurowissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. „Eine Möglichkeit ist, dass die emotionale Verarbeitung von Schmerz bei ihnen verändert ist.“
Die Furcht spielt im Zusammenhang mit Schmerz eine wichtige Rolle: Bauchschmerzen signalisieren potenzielle Gewebeschädigungen oder drohende Beschwerden, weshalb wir schnell lernen, wenn Ereignisse oder Reize in zeitlicher Nähe zu Bauchschmerz auftreten. Dann fürchten wir uns und versuchen, diese Reize zu vermeiden. Das ist gut und schützt uns. Aber: Von anderen chronischen Schmerzerkrankungen wie dem Reizdarmsyndrom ist bekannt, dass Betroffene schmerzbezogene Furcht stärker lernen als Gesunde. „Zusammen mit anhaltendem Vermeidungsverhalten kann das dazu führen, dass Bauchschmerz als immer bedrohlicher wahrgenommen und so aufrechterhalten wird“, sagt Hanna Öhlmann.
Den Schmerz fürchten lernen
Um herauszufinden, ob das auch bei CED-Betroffenen so ist, gewannen die Forschenden 43 Versuchspersonen für ihre experimentelle Studie. Davon hatten 21 eine diagnostizierte Colitis ulcerosa – eine Unterform der CED, die hauptsächlich den Dickdarm betrifft. Die übrigen waren gesunde Kontrollpersonen.
Am ersten Studientag wurden den Teilnehmenden verschiedene Symbole auf einem Bildschirm gezeigt. Ein Symbol war wiederholt mit einem schmerzhaften Hitzereiz am Unterbauch verbunden, ein anderes Symbol niemals. So lernten die Versuchspersonen, welches Symbol den Schmerz nach sich zog. Anschließend folgte eine Extinktionsphase, in der alle Symbole ohne schmerzhafte Reize gezeigt wurden und die schmerzbezogene Furcht vor dem Symbol, das ursprünglich mit dem Hitzereiz gekoppelt war, wieder abnahm.
Am zweiten Studientag wurde die Extinktionsphase wiederholt. Dann wurden die Teilnehmenden unerwartet, also ohne visuellen Hinweis, erneut den Hitzereizen ausgesetzt. „So wollten wir testen, ob CED-Betroffene den Schmerz nach dem Furchtlernen anders wahrnehmen als Gesunde und ob dies mit der Stärke des Furchtlernens zusammenhängt“, erklärt Hanna Öhlmann.
Patientinnen und Patienten empfinden Schmerz unangenehmer und intensiver
Die Ergebnisse zeigen: CED-Betroffene empfanden den Schmerz bei erneuter Konfrontation als unangenehmer und auch intensiver als Gesunde. Mehr erlernte schmerzbezogene Furcht am ersten Studientag ging mit einer unangenehmeren und intensiveren Schmerzwahrnehmung am zweiten Studientag einher – und zwar ausschließlich bei CED-Betroffenen. Weitere Analysen zeigten, dass das Furchtlernen vor allem die empfundene Unangenehmheit des Schmerzes prägte und nur indirekt auf die Schmerzintensität wirkte. Die emotionale Färbung des Schmerzes spielte also eine wichtige Rolle.
„Interessant ist aber, dass die CED-Betroffenen am ersten Tag nicht mehr schmerzbezogene Furcht erlernt hatten als die gesunden Teilnehmenden“, unterstreicht Hanna Öhlmann. „Es war also nicht das Furchtlernen an sich verändert, sondern vielmehr, wie die Furcht mit der Schmerzwahrnehmung zusammenhängt.“ Das deute darauf hin, dass die wiederkehrenden starken Entzündungsschübe möglicherweise langfristig verändern, wie Schmerz in Abhängigkeit von der Furcht zentral verarbeitet wird. Schmerzen werden dann intensiver erlebt, ohne dass die Furcht selbst übermäßig stark ist. Für diese Möglichkeit sprechen auch frühere Studien, die strukturelle und funktionelle Veränderungen im Gehirn von CED-Betroffenen zeigen, und zwar insbesondere in Hirnregionen, die an der Verarbeitung von Furcht und Schmerz beteiligt sind.
Folgen für die Behandlung
Die Behandlung von CED zielt bislang vorrangig auf die Kontrolle der Entzündung im Magen-Darm-Trakt ab. Doch auch psychologische Faktoren – etwa Stress, anhaltende Vermeidung oder schmerzbezogene Furcht – könnten eine entscheidende Rolle spielen. „Deswegen sollte chronischer Bauchschmerz als wichtiges Merkmal der Krankheit anerkannt und gezielt behandelt werden“, so Hanna Öhlmann. „Vor allem Betroffene, die trotz erfolgreicher Kontrolle der Entzündung weiter unter Bauchschmerzen leiden, könnten von einer ganzheitlicheren Sichtweise profitieren. Unsere Daten legen nahe, dass psychologische Verfahren – etwa aus der kognitiven Verhaltenstherapie, die gezielt an Furcht und Vermeidung ansetzen – systematisch untersucht werden sollten, auch bei anderen chronisch-entzündlichen Erkrankungen, die mit Schmerzen einhergehen, wie Rheuma oder Endometriose.“
Förderung
Die Arbeit wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert: Projektnummer 316803389 – Sonderforschungsbereich 1280 Extinktionslernen.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Hanna Öhlmann
Zentrum für Medizinische Psychologie und Translationale Neurowissenschaften
Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 11962
E-Mail: hanna.oehlmann@ruhr-uni-bochum.de
Originalpublikation:
Hanna Öhlmann, Liubov Rohde, Jost Langhorst, Adriane Icenhour, Harald Engler, Sigrid Elsenbruch: Fear-induced Hyperalgesia in Guiescent Inflammatory Bowel Disease, in: PAIN 2025, DOI: 10.1097/j.pain.0000000000003853, https://journals.lww.com/pain/fulltext/9900/fear_induced_hyperalgesia_in_quiesce…
Bilder
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch

