Teilen:
11.06.2025 11:27
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‚Wissenschaft‘, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Reduzierter Alkoholkonsum als Therapieziel für Alkoholabhängige offiziell anerkannt
Die US-amerikanische Zulassungsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte (FDA) erkennt eine relevante Verringerung der Trinkmenge bei alkoholabhängigen Menschen künftig als Behandlungsziel in Zulassungsstudien für neue Therapieansätze an. Große epidemiologische und klinische Studien konnten die positive Wirksamkeit des reduzierten Alkoholkonsums nachweisen. Die wissenschaftlichen Daten zur Trinkmengenreduktion wurden über mehr als fünf Jahre evaluiert und von der FDA nach einer unabhängigen Re-Analyse bestätigt. Experten versprechen sich hiervon neue Anreize für Therapiestudien zur Behandlung der Alkoholsucht.
Für viele Menschen ist die Alkoholabhängigkeit eine chronisch-wiederkehrende Erkrankung. Dauerhaft abstinent zu bleiben ist extrem schwierig. Geringe Erfolgsaussichten, eine Abstinenz zu erreichen, gehören zu den Hauptgründen, weshalb nur rund 10 Prozent der Betroffenen eine Therapie beginnen. So lag am Ende einer großen US-amerikanischen Studie der Erfolg gemessen an Abstinenz bei zirka 35 Prozent, gemessen an einer definierten Trinkmengenreduktion jedoch bei 75 Prozent. Dieses Ergebnis wurde in weiteren Studien bestätigt. Die deutlich höhere Erfolgsaussicht ist bedeutsam, wenn es um den Entschluss zu einer Behandlung geht, oder auch um Hoffnung bei den Angehörigen zu erzeugen.
Trinkmengenreduktion als Paradigmenwechsel
Vor mehr als fünfzig Jahren wurde die Methadon-Substitution für Heroinabhängige eingeführt. Diese medizinische Verordnung eines Suchtstoffs, um gesundheitliche und soziale Schäden zu verringern, war ein enorm erfolgreicher Paradigmenwechsel in der Behandlung von Suchtpatienten. Bei Alkoholabhängigen dagegen stand das Gebot der Abstinenz als einziges Therapieziel einem schadenminimierenden Ansatz bisher im Wege. Daher hat die Entscheidung der FDA grundlegende Bedeutung. Sie erweitert die therapeutischen Optionen erheblich und stellt die Trinkmengenreduktion als gleichwertiges Therapieziel neben die Abstinenz. Damit werden frühere Ansätze der europäischen Zulassungsbehörde für Medizinprodukte (EMA) aufgegriffen. Dort war eine Trinkmengenreduktion bereits anerkannt worden, allerdings nur als intermediäres (sekundäres) Therapieziel.
Neue Wirkstoffe und differenziertere Therapie
Die Entscheidung der FDA basiert auf der Re-Analyse von umfassenden Studiendaten, die von einer Arbeitsgruppe von US-Experten zusammengestellt wurden. Entgegen weit verbreiteter Überzeugungen ist danach eine signifikante Verringerung der Trinkmenge auch für Abhängige über mehrere Jahre möglich. Prof. Dr. Karl Mann, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Suchtforschung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, ist Mitglied der Arbeitsgruppe. Er sieht in der neuen Entwicklung eine große Chance: „Die Anerkennung durch die FDA wird dazu führen, dass die Schwelle zum Antritt einer Therapie deutlich gesenkt wird. Weltweit werden mehr Menschen den Weg in die Behandlung finden. So kommt die gesamte Breite der bewährten Sozio-, Psycho- und Pharmakotherapien besser zum Tragen. Zudem sollten die verbesserten Erfolgschancen die pharmazeutische Industrie zu neuen Studien anregen, zum Beispiel um die Reduktion der Trinkmengen auch medikamentös zu unterstützen.“ Mann hebt zudem den konkreten Nutzen des Ansatzes für die Betroffenen, ihr persönliches Umfeld und die Gesellschaft hervor: „Die Studiendaten zeigen, dass Betroffene mit reduziertem Konsum über klinisch signifikante Verbesserungen ihres Befindens und ihrer Leistungsfähigkeit berichten. Das Abhängigkeitsrisiko und die Gesundheitskosten gehen zurück, während sich die psychische Gesundheit und die Lebensqualität verbessern. Als anerkanntes Therapieziel neben der Abstinenz ermöglicht der Ansatz der Trinkmengenreduktion eine differenziertere und individuellere Therapie.“
Wer ist alkoholabhängig?
Eine Alkoholabhängigkeit liegt vor, wenn mindestens drei von sechs definierten Kriterien erfüllt sind: 1. Ein starkes Verlangen, Alkohol zu konsumieren, 2. Schwierigkeiten, die Einnahme zu kontrollieren (bzgl. Beginn, Ende und Menge), 3. ein körperliches Entzugssyndrom bei Reduktion oder Absetzen, 4. eine Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen, 5. Eine fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten der Alkoholeinnahme sowie 6. fortdauernder Alkoholgebrauch trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, etwa Leberschädigung durch exzessives Trinken. Demnach sind in Deutschland rund zwei Millionen Menschen vom Alkohol abhängig. Derzeit sind 70 Prozent von ihnen Männer, allerdings holen die Frauen in den letzten Jahren sehr stark auf. Weitere zirka zwei Millionen Menschen erfüllen zwar nicht die Kriterien einer Abhängigkeit, konsumieren aber in eindeutig gesundheitsschädlichem Ausmaß. Etwa 70.000 Menschen sterben jährlich an den Auswirkungen der Sucht.
###
Über das ZI
Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (zi-manheim.de) steht für international herausragende Forschung und wegweisende Behandlungskonzepte in Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Suchtmedizin. Die Kliniken des ZI gewährleisten die psychiatrische Versorgung der Mannheimer Bevölkerung. Psychisch kranke Menschen aller Altersstufen können am ZI auf fortschrittlichste, auf internationalem Wissensstand basierende Behandlungen vertrauen. Über psychische Erkrankungen aufzuklären, Verständnis für Betroffene zu schaffen und die Prävention zu stärken ist ein weiterer wichtiger Teil unserer Arbeit. In der psychiatrischen Forschung zählt das ZI zu den führenden Einrichtungen Europas und ist ein Standort des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (dzpg.org). Das ZI ist institutionell mit der Universität Heidelberg über gemeinsam berufene Professorinnen und Professoren der Medizinischen Fakultät Mannheim verbunden und Mitglied der Health + Life Science Alliance Heidelberg Mannheim (health-life-sciences.de).
Weitere Informationen:
https://force-dsc.my.site.com/ddt/s/ddt-project?ddtprojectid=33 Zur Dokumentation der FDA
Bilder
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
