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10.01.2024 09:05
Drei Strategien zur Förderung von Ökostrom in der Schweiz
Klimaneutralität und Atomausstieg: Die zentralen Ökostromziele der Schweiz sind ehrgeizig. Dennoch sind sie realistisch, wenn die Stromversorgung tiefgreifend und rasch umgestaltet wird, wie eine neue Studie des SWEET EDGE-Konsortiums zeigt. Es hat drei Strategien entwickelt, um den Strombedarf zu decken und dabei mehrere tausend Arbeitsplätze im Bereich erneuerbarer Energien zu schaffen. Das Konsortium vereint Forschende der Universitäten Genf und Bern, EPFL und ETH Zürich sowie weitere Partner.
Das vom Schweizer Parlament am 29. September 2023 bereinigte Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, kurz Mantelerlass, soll den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen. Sein Ziel sind bis zum Jahr 2035 35 Terawattstunden (TWh) pro Jahr aus grünen Technologien (Sonne, Wind, Holz und Biogas) zu gewinnen. Zum Vergleich: 2022 waren es rund 6 TWh. Das neue Ziel entspräche etwa der Hälfte des für 2035 zu erwartenden Strombedarfs der Schweiz. Die andere Hälfte würde durch Wasserkraft und Importe gedeckt werden. Die Schweiz würde dabei ohne Kernenergie und fossile Grosskraftwerke mit Strom versorgt werden.
Das Forschungskonsortium SWEET EDGE hat verschiedene Möglichkeiten analysiert, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Gefördert vom SWEET-Programm (SWiss Energy research for the Energy Transition) des Bundesamts für Energie (BFE) gehören dem Konsortium Forschende der Universitäten Genf und Bern, der EPFL, der ETH Zürich und weitere Partner an. Sie haben drei Strategien erarbeitet, wie das Ziel von 35 TWh aus Ökostrom bis 2035 erreicht werden kann. Zudem schloss die Studie weniger ehrgeizige Ziele ein (25 TWh/Jahr mit einem Mix aus erneuerbaren Energien oder nur mit Solarenergie; 17 TWh mit Mix). Auch die technischen, regionalen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Strategien wurden sorgfältig analysiert.
1. Strategie: Fokus auf Vielfalt
Die erste Strategie kombiniert neue Technologien, um Vielfalt und Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Um das Ziel von 35 TWh/Jahr zu erreichen, impliziert sie einen Mix zum Beispiel aus 25 TWh/Jahr aus Photovoltaik, 8 TWh/Jahr aus Biomasse und Abfall und 2 TWh/Jahr aus Wind. «Diese Strategie beinhaltet diskrete Solaranlagen an Fassaden und auf Dächern und würde von der Bevölkerung gut angenommen werden. Für das Ziel von 35 TWh sind Solaranlagen bereits im ganzen Land zu finden. Nur im sonnigen Tessin und Wallis wären sie noch weiter verbreitet», erklärt Evelina Trutnevyte, Ko-Koordinatorin von SWEET EDGE und Professorin für erneuerbare Energiesysteme an der Universität Genf. Zudem würden Windparks benötigt.
2. Strategie: Fokus auf Photovoltaik-Solaranlagen mit Batterien
Diese Strategie setzt auf Photovoltaikanlagen mit Speicherbatterien für den Eigenverbrauch auf privaten Dächern. Sie erfordert ein aktiveres Engagement der Bürgerinnen und Bürger, hat aber den Vorteil, dass bestimmte weniger akzeptierte Technologien vermieden würden. Beim 35 TWh-Ziel sollte die Solarenergie 31 TWh/Jahr liefern, ergänzt durch 4 TWh/Jahr aus bestehenden Biomasse- und Abfallverbrennungsanlagen. «Es würden Photovoltaikanlagen in den Kantonen Bern, Zürich und der Zentralschweiz errichtet, wo die Dichte an geeigneten Gebäuden hoch ist und wir aktuell von einer unterstützenden Förderpolitik ausgehen. Graubünden und Wallis müssten viel mehr Anlagen bauen, auch auf Freiflächen», erklärt Giovanni Sansavini, Professor für Reliability and Risk Engineering an der ETH Zürich.
3. Strategie: Fokus auf Produktivität
Diese Strategie konzentriert sich auf die Optimierung der Produktion von Windkraft- und Photovoltaik-Infrastrukturen, einschliesslich Photovoltaik auf Dächern und Freiflächen. Sie bietet den Vorteil, dass sich die Anlagen auf die produktivsten Standorte konzentrieren und Investitionen in Biomasse- und Abfallbehandlungsanlagen vermieden würden. Um 35 TWh/Jahr zu erreichen, erfordert diese Option einen Mix aus 30 TWh/Jahr Photovoltaik und 5 TWh/Jahr Windenergie. «Hier würde sich der grösste Teil der photovoltaischen Solarenergie auf Alpengemeinden konzentrieren, insbesondere in Graubünden und im Wallis», erklärt Michael Lehning, Ko-Koordinator von SWEET EDGE und Professor an der EPFL. «Diese Option würde den Winterimport am effizientesten begrenzen.»
Erhebliche Investitionen, aber auch viele neue Arbeitsplätze
Der Investitionsbedarf liegt von heute bis 2035 zwischen 0,5 und 2,1 Mrd. CHF pro Jahr je nach Strategie und Ziel. Die dritte Strategie «Produktivität» wäre die günstigste (1,4 Milliarden CHF pro Jahr für das Ziel 35 TWh/Jahr), da sie den Bau der wenigsten Anlagen erfordert. Die erste Strategie («Vielfalt») wäre beim 35 TWh-Ziel die teuerste (1,7 Milliarden CHF), bei den weniger ehrgeizigen Zielen (17 und 25 TWh/Jahr) aber die zweitgünstigste. Da die Photovoltaik bei allen Strategien als Energiequelle vorherrscht, würde sie mindestens 80% der Kosten absorbieren. Je nach Strategie und Ziel könnte der Aufbau der benötigten Erzeugungskapazitäten bis 2035 jährlich zwischen 18.000 und 57.000 Personen in Vollzeit beschäftigen. Dabei könnten 33% der Arbeitsplätze auf die Herstellung, 62% auf Bau und Installation, 4% auf Betrieb und Wartung und 1% auf die Erneuerung der Anlagen entfallen. Die Photovoltaik mit Batterien würde die meisten Arbeitsplätze schaffen; beim 35 TWh-Ziel wären es 50’000 in Vollzeit.
Hohe Akzeptanz für erneuerbare Energien und Energieunabhängigkeit
Neben den drei Strategien und ihrer technisch-ökonomischen Bewertung dokumentiert der Bericht anhand von Umfragedaten, dass die Sorgen um Energiesicherheit und -versorgung, die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine schwerer wiegen, mit einem starken Wunsch nach Energieunabhängigkeit und heimischer Produktion erneuerbarer Energie einhergehen. Dennoch, so Isabelle Stadelmann-Steffen von der Universität Bern, «bleiben Windenergie und Freiflächen-Photovoltaik – ähnlich wie die Kernenergie – ein umstrittenes Thema in der Bevölkerung». Die Professorin für Vergleichende Politik verantwortet eine grosse Bevölkerungsumfrage, die an der Universität Bern konzipiert und durchgeführt wurde und die Basis für die Akzeptanzanalysen bildet.
Realistische Ziele
Die Studie zeigt, dass die vier Stromerzeugungsziele technisch ohne Kernenergie und fossile Grosskraftwerke erreichbar sind. Je höher das Ziel, desto weniger Strom muss die Schweiz importieren. Beim Ziel 35 TWh/Jahr kann die Schweiz eine Stromversorgung sicherstellen, die fast vollständig auf inländischer Produktion erneuerbarer Energien beruht. Dennoch bleiben die Nettostromimporte ein wichtiges Instrument zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage.
Die Autorinnen und Autoren tragen die alleinige Verantwortung für die in dieser Veröffentlichung dargestellten Ergebnisse und Schlussfolgerungen.
SWEET und SWEET EDGE
SWEET (SWiss Energy research for the Energy Transition) ist ein Förderprogramm des Bundesamts für Energie (BFE). Das Ziel von SWEET ist, Innovationen zu beschleunigen, die für die Umsetzung der Schweizer Energiestrategie 2050 und das Erreichen der Klimaziele entscheidend sind. Anfang 2021 gestartet läuft das Förderprogramm bis 2032. SWEET EDGE ist ein Konsortium, das vom «SWEET»-Programm des Bundesamts für Energie gefördert und von Gruppen der Universität Genf und der EPFL koordiniert wird. Das SWEET EDGE-Programm zielt darauf ab, den Einsatz von erneuerbaren Energien lokal und dezentral in der Schweiz zu beschleunigen. Das Projekt soll sicherstellen, dass bis 2035 und 2050, wenn erneuerbare Energien einen ambitionierten Anteil erreicht haben, das Schweizer Energiesystem optimal ausgelegt und betrieben, sowie technisch und wirtschaftlich sicher und auf den europäischen Märkten positioniert ist.
Das Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern
Das IPW ist eines der führenden politikwissenschaftlichen Institute der Schweiz und gehört gemäss CHE Excellence Einstufung zur Spitzengruppe in Europa. Es beheimatet ausgezeichnete Grundlagenforschung und praxisrelevante Auftragsforschung. Deren Kernbotschaften sind Bestandteile der angebotenen Studiengänge Bachelor «Sozialwissenschaften» sowie Master «Politikwissenschaft» und Master «Schweizer Politik und Vergleichende Politik». Schwerpunkte in der Lehre und Forschung sind schweizerische Politik, vergleichende Politikwissenschaft, europäische Politik, Policy Analyse, Klima-, Energie- und Umweltpolitik sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung im Rahmen der politischen Soziologie. Zudem offeriert das IPW Dienstleistungen für die Öffentlichkeit wie etwa das Année Politique Suisse.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
PROF. DR. ISABELLE STADELMANN-STEFFEN
Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern
Telefon
+41 31 684 83 55
E-Mail-Adresse
isabelle.stadelmann@unibe.ch
Originalpublikation:
https://archive-ouverte.unige.ch/unige:172640
Weitere Informationen:
https://mediarelations.unibe.ch/medienmitteilungen/2024/medienmitteilungen_2024/…
Bilder
Prof. Dr. Isabelle Stadelmann-Steffen, Professorin für Vergleichende Politik am Institut für Politik …
zvg
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Energie, Politik
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch