Screening auf psychische Erkrankungen: ein Drahtseilakt



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17.12.2024 11:07

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Screening auf psychische Erkrankungen: ein Drahtseilakt

Die psychische Gesundheit ist spätestens seit der COVID-19 Pandemie in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik gerückt. Das AIHTA hat analysiert, ob und unter welchen Gesichtspunkten ein Screening auf psychische Erkrankungen in der Primärversorgung geeignet wäre.

Beinahe jeder fünfte Erwachsene in Österreich ist jährlich von einer psychischen Erkrankung betroffen. Am häufigsten treten dabei Depressionen (zehn Prozent), Angststörungen (sieben Prozent) und Probleme mit Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit (rund zwölf Prozent) auf. Generell gilt, dass arbeitslose Personen, Menschen mit finanziellen Sorgen und jene, die sich um ein krankes Familienmitglied kümmern, eher betroffen sind. In seinem Bericht geht das Austrian Institute for Health Technologie Assessment (AIHTA) daher der Frage auf den Grund, ob und wie ein Screening auf psychische Erkrankungen bei Erwachsenen umsetzbar wäre – und zwar im Setting der Primärversorgung.

Hohe Dunkelziffer an Betroffenen

Dies gilt umso mehr, als es eine hohe Dunkelziffer an Betroffenen gibt, die unter psychischen Erkrankungen leiden, gleichzeitig aber keine Hilfe in Anspruch nehmen. Die Studienlage gibt dazu mehrfach Hinweise: Daten aus Österreich und Deutschland zeigen, dass rund 60 % der Menschen mit psychischen Erkrankungen keinerlei Behandlung in Anspruch nehmen. Aber wie erreicht man am besten Personen, die eine Therapie
benötigen?

Ziel eines Screenings ist es, Personen zu identifizieren, die an bestimmten Krankheiten leiden, es jedoch noch nicht wissen oder eine Prädisposition dafür besitzen. In Hinblick auf psychische Erkrankungen bedeutet das auch, „physische Symptome, die auf ein psychisches Leiden hindeuten, rechtzeitig zu erkennen“, erklärt Julia Kern, Erstautorin des Berichts und wissenschaftliche Mitarbeiterin des AIHTA. Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Antriebslosigkeit – oftmals klagen Patient:innen über somatische Symptome, ohne dabei an ein psychisches Problem zu denken. Erste Anlaufstelle bei derartigen Beschwerden ist nicht selten der Hausarzt/die Hausärztin. Ein entsprechendes Screening in der Primärversorgung aufzusetzen wäre daher grundsätzlich schlüssig.

Screening: mehr als nur ein Test

Die Implementierung eines derartigen Gesundheitsprogramms müsste aber umfassend angegangen werden. Denn: „Man darf ein Screening auf psychische Erkrankungen keinesfalls nur als Test ansehen, der beispielsweise im Zuge der Vorsorgeuntersuchung durchgeführt wird“, sagt Kern. Zwar würden internationale Studien die Genauigkeit von Tests – in der Regel handelt es sich dabei um Fragebögen für die Patient:innen – belegen. Dieser Ansatz greife aber zu kurz. Kern: „Es geht um das Abbilden und Umsetzen des gesamten Screening-Prozesses.“ Das beginnt bei der Definition des Zieles, das erreicht werden soll, beinhaltet das Einladungsmanagement und damit die Definition jener Personengruppen, die erfasst werden sollen und führt weiter bis hin zur Gestaltung der Therapiemöglichkeiten im Bedarfsfall.

Pro und Contra Screening

Im Jahr 2020 wurde im Rahmen der Überarbeitung der Vorsorgeuntersuchung (VU) keine Aufnahme eines formalen Screenings auf Depressionen unter anderem aufgrund der Länge des Tests und der limitierten therapeutischen Möglichkeiten für Personen mit leichter Depression empfohlen. Dazu kam die Befürchtung einer unnötigen zusätzlichen Verschreibung von Psychopharmaka. Inanna Reinsperger, Projektleiterin beim AIHTA, ergänzt: „Der mögliche Schaden eines generellen Screenings reicht von unnötigen Tests und längeren Wartezeiten auf Diagnostik und Therapie bei hoher Anzahl falsch-positiver Ergebnisse, bis hin zu verspäteten Diagnosen bei Personen mit falsch-negativen Ergebnissen, sowie Überdiagnostik und Therapie.“ Sofern es nicht ausreichend Therapieplätze gibt, ist mit steigenden Wartezeiten für die Betroffenen zu rechnen. Eine weitere Herausforderung betrifft die Akzeptanz der VU als Setting für ein derartiges Screening. Denn: „Aktuell nehmen jährlich nur rund zwölf Prozent daran teil – Personen mit psychischen Erkrankungen tendenziell noch seltener“, so die Autorinnen.

Bei der Analyse von neun internationalen systematischen Reviews und 28 Leitlinien zu diesem Thema bot sich folgendes Bild: Die Evidenz für ein Screening der gesamten Bevölkerung auf psychische Erkrankungen ist dünn. Gleichzeitig gibt es eine Reihe an erprobten Tests und auch evidenzbasierte Leitlinien, die ein Screening empfehlen – und zwar für bestimmte Personen- und Patient:innengruppen. „Wir haben uns auch Leitlinien zu körperlichen Erkrankungen, etwa Herzinsuffizienz, Diabetes oder Krebs angesehen. Dort wird festgehalten, dass betroffene Menschen regelmäßig auch auf psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen gescreent werden sollten“, sagt Reinsperger. In diese Richtung könne man weiterdenken. „Krankheitsbild-basierte Screenings, die auf entsprechenden Leitlinien aufbauen, wären in der Primärversorgung vorstellbar.“

Alternativen zum Screening: Entstigmatisierung vorantreiben

Vorab lautet der Vorschlag der Autorinnen aber, jedenfalls mögliche Alternativen zu einem Screening-Programm zu prüfen. Reinsperger: „Primäres Ziel muss es sein, das Leid durch psychische Erkrankungen zu minimieren. Hier gilt es, die sinnvollste Methode zu finden, die auch einer Kosten-Nutzen-Rechnung standhält.“ Das Problemfeld ist groß: Ein erster Schritt wäre, das Angebot an verfügbaren Therapieplätzen sowie die finanzielle Unterstützung für Betroffene auszubauen. Ein weiterer konkreter Vorschlag des AIHTA betrifft die umfassende Aufklärung und Information der Bevölkerung. „Es sollte alles getan werden, was zur Entstigmatisierung beiträgt. Psychische Erkrankungen sind nach wie vor ein Tabu“, formuliert es Kern. Zudem fehle es an Wissen über mögliche Symptome und darüber, wo man Hilfe erhalten kann. Weiters gebe es bei der Wahl der Behandlungen Spielraum. Kern: „Je nach Schweregrad der Erkrankung geht es darum, auch leichtere, kürzere Therapieformen ins Auge zu fassen.“ Reinsperger ergänzt: „Es braucht klar definierte Wege, welche Diagnose welche Behandlung nach sich zieht. Hier gibt es aktuell noch Nachholbedarf.“


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Ansprechpartner für inhaltliche Fragen und Interviews:

Austrian Institute for Health Technology Assessment
Julia Kern, MSc
T + 43/ 1 /2368119-15
Garnisongasse 7/20
1090 Wien
E-Mail: julia.kern@aihta.at


Originalpublikation:

Kern, J., Reinsperger, I. und Hofer, V. (2024): Screening auf psychische Erkrankungen bei Erwachsenen in der Primärversorgung. HTA-Projektbericht 159. https://eprints.aihta.at/1544/


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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch


 

Quelle: IDW