10.12.2021 09:58
Digitale Gesundheitsanwendungen: Wenig Evidenz für Nutzen von „Symptom-Checkern“
Das Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) evaluierte eine Gruppe von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs), die sogenannten „Symptom-Checker“. Ziel der Analyse war es, einen evidenzbasierten Bewertungsprozess zu etablieren, unter welchen Voraussetzungen Sozialversicherungsträger die Kosten für die Nutzung solcher Apps übernehmen sollten. Das Hauptergebnis der Studie: Ein Nachweis des Nutzens dieser Symptom-Checker konnte bisher nicht ausreichend erbracht werden.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Der Markt für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) boomt, mehrere 100.000 Apps versprechen gesundheitliche Vorteile für ihre Nutzer*innen. Verstärkt hat sich der Trend nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie und sich wiederholende Lockdowns. Die Angebote reichen von niederschwelligen Anwendungen wie Pulsmessern oder Schrittzählern über digitale Erinnerungshilfen für die Einnahme von Medikamenten bis zu ärztlichen Diagnose-Tools. Für die meisten Gesundheits-Apps liegt jedoch nur wenig Evidenz zum tatsächlichen medizinischen Nutzen vor, hat eine Studie des Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) bereits im Vorjahr gezeigt.
Nun hat Studienleiter Reinhard Jeindl vom AIHTA in einer aktuellen Untersuchung die Gruppe der sogenannten „Symptom-Checker“ evaluiert. Sein Fazit: „Diese Apps sind mit Vorsicht zu verwenden.“ Wer etwa an Kopfschmerzen leidet, gibt auf einer Eingabemaske Alter und Geschlecht ein und wird anschließend von einem Chat-Bot gefragt, wie lange beispielsweise die Kopfschmerzen schon dauern oder ob gleichzeitig Fieber aufgetreten ist. Am Ende der Befragung präsentiert der Symptom-Checker mehrere mögliche Ursachen für die gesundheitlichen Beschwerden. Die digitalen Anwendungen versprechen so eine Unterstützung beim Diagnoseprozess und eine Verbesserung der Steuerung von Patient*innenflüssen. Das Prinzip hinter den Apps erinnert an die Gesundheitshotline 1450, nur dass hier häufig nicht nur Handlungsempfehlungen, sondern auch eine Liste an möglichen Diagnosen geliefert wird. „Beim Symptom ‚Kopfschmerz‘ können diese von Verspannungen bis zum Hirntumor reichen. Das führt mitunter zu erheblichen Verunsicherungen und Ängsten“, betont Jeindl.
Mangelhafte Studien, verzerrte Ergebnisse
Die Auswahl der in der Studie berücksichtigten Symptom-Checker basiert auf einer systematischen Suche in vier medizinischen Datenbanken. Für die Analyse der Evidenz wurden neben einer Übersichtarbeit, die 27 Studien umfasste, weitere 14 Studien berücksichtigt.
Was die „Sicherheit“ der Symptom-Checker betrifft, wurden bisher zwar keine möglichen Schäden durch Verwendung der Apps identifiziert, die Evidenz zur Genauigkeit der Diagnosevorschläge und der daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen lieferte aber keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Die Studien zu Symptom-Checkern weisen methodische Mängel auf, sie werden meist auf Basis von fiktiven, klinischen Fällen über Rollenspiele der Probanden getestet. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Algorithmen der Symptom-Checker mit denselben Fallvignetten trainiert wurden, die auch für die Erhebung der Daten in den Studien herangezogen wurden. „Demnach können die Ergebnisse häufig nicht auf reale Bedingungen umgelegt werden“, betont Reinhard Jeindl.
Was Nutzer*innen tun können
Anwender*innen von Symptom-Checkern empfiehlt der Studienleiter auf die Quellen zu achten, auf deren Basis die Diagnosevorschläge abgeleitet werden. „Apps, die verwendete Quellen nicht offenlegen, sind wenig vertrauenswürdig“, gibt Jeindl zu bedenken. Aber auch die Qualität ist ausschlaggebend, „es macht einen großen Unterschied, ob seriöse medizinische Quellen herangezogen werden oder die Informationen von einer Homöopathie-Seite oder Nahrungsergänzungsmittel-Werbeplattform stammen“, ergänzt der Experte.
Für die Kostenrefundierung von DiGAs sollten sich die Sozialversicherungsträger den Studienautoren zufolge an der Relevanz der Anwendungen, ihren technologiespezifischen Anforderungen (z.B. Einhaltung der Datenschutzvorgaben, Kompatibilität mit ELGA) und besonders am Nachweis des Nutzens orientieren. Für Symptom-Checker konnte dieser Nutzennachweis aber „nicht ausreichend erbracht werden“, heißt es im AIHTA-Bericht abschließend.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Kontakt für inhaltliche Fragen und Interviews:
Austrian Institute for Health Technology Assessment
Dr. med. Reinhard Jeindl
Garnisongasse 7/20
1090 Wien
T +43 / 1 / 2368119-22
E-Mail: reinhard.jeindl@aihta.at
Web: http://www.aihta.at
Kontakt für Fragen zur Veröffentlichung:
Mag. Günther Brandstetter; T +43 / 660 / 3126348
E-Mail: guenther.brandstetter@aihta.at
Originalpublikation:
Jeindl R., Goetz G. Prozess und Bewertung digitaler Gesundheitsanwendungen – am Beispiel der „Symptom-Checker“. AIHTA Projektbericht Nr. 141, 2021. Wien: HTA Austria – Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH. https://eprints.aihta.at/1348/
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch