15.12.2021 09:15
Long COVID nach milder SARS-CoV-2 Infektion: Krankheitsbild mit vielen Gesichtern
Ein interdisziplinäres Team von ÄrztInnen aus Tirol und Südtirol hat anhand einer Online-Befragung von COVID-19 erkrankten, aber nicht hospitalisierten PatientInnen die komplexen, langanhaltenden Symptome ermittelt und analysiert. Ziel der Studie „Gesundheit nach COVID-19“ war es, das Krankheitsbild Long COVID besser zu charakterisieren. Das Fachjournal Clinical Infectious Diseases berichtet über die ersten Ergebnisse.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Innsbruck, am 15.12.2021: Atemnot, Erschöpfung, Geschmacksverlust, Konzentrations- und Schlafstörung oder depressive Verstimmung – das sind nur einige Beschwerden, von denen Genesene auch noch Monate nach COVID-19 berichten. Die Phase der Gesundung nach COVID-19 hat viele Aspekte und stellt das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen.
„Long COVID ist ein PatientInnen-geprägter Begriff, definiert als das Vorhandensein von mindestens einem COVID-19 assoziierten Symptom 28 Tage oder länger nach der akuten Infektphase. Dieser neue Begriff sagt aber nichts über das klinische Erscheinungsbild aus, das sehr heterogen ist. Um Langzeitfolgen zu charakterisieren und einordnen zu können, bedarf es epidemiologisch valider Daten“, betont Judith Löffler-Ragg von der Univ.-Klinik für Innere Medizin II an der Medizinischen Universität Innsbruck. Sie leitet gemeinsam mit Klinikdirektor Günter Weiss, Raimund Helbok von der Univ.-Klinik für Neurologie, Dietmar Ausserhofer und Giuliano Piccoliori vom Institut für Allgemeinmedizin und Public Health an der Landesfachhochschule für Gesundheitsberufe Claudiana in Bozen und weiteren ExpertInnen aus den Bereichen Innere Medizin, Neurologie, Allgemeinmedizin, Psychiatrie, Dermatologie, Pädiatrie, Rehabilitation, Gesundheitswesen und Statistik, das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Gesundheit nach COVID-19“. An der vom Land Tirol geförderten Online-Befragung haben sich bisher insgesamt 2.065 TirolerInnen und 1.075 SüdtirolerInnen beteiligt.
In die aktuelle Auswertung der ersten, zwischen September 2020 und Juli 2021 durchgeführten Online-Umfrage, wurden ausschließlich die Angaben jener Befragten einbezogen, die nicht im Krankenhaus behandelt werden mussten und 28 Tage oder länger nach dem Infekt noch Symptome hatten. „Nahezu die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Tirol: 47,6%, Südtirol: 49,3%) gab an, dass die Symptome über 28 Tage hinaus fortbestanden,“ so Studienleiterin Löffler-Ragg, die in diesem Zusammenhang auf eine mögliche Verzerrung durch StudienteilnehmerInnen mit erhöhtem Leidensdruck hinweist.
Komplexe Symptommuster
Aussagekräftiger sei die vorliegende Arbeit jedoch hinsichtlich Symptommuster und Erscheinungsbilder, sogenannter Phänotypen. Schon beim Verlauf der akuten COVID-19-Infektion konnten die StudienautorInnen in beiden Studien-Kohorten einen Unterschied zwischen der Gruppe mit vorwiegend „Grippe-ähnlichen“ Symptomen und jener mit zahlreichen neurologischen, kardiopulmonalen (Herz/Lunge) und abdominellen (die Bauchorgane betreffend) Beschwerden feststellen. Für letztere Gruppe prägten die ForscherInnen den Begriff „Multiorgan Phänotyp“ (MOP). „Es war überraschend, dass vor allem Menschen im arbeitsfähigen Alter von 35 bis 55 Jahren einen akuten Infekt mit durchschnittlich 13 Symptomen zu Hause durchmachten, der häufig dieser Multiorgan-Symptomatik zuzuordnen war. Die Anzahl der akuten Symptome sowie die Anzahl spezieller MOP Symptome kristallisierten sich schließlich als Risikofaktoren für eine verzögerte Genesung heraus, wobei Männer ein um 35 bis 55 Prozent vermindertes Risiko für Long COVID hatten“, so Löffler-Ragg. Auch andere internationale Studien belegen, dass von Long COVID mehrheitlich Frauen betroffen sind, wenngleich sie ein geringeres Risiko für einen schweren akuten Verlauf und eine niedrigere Hospitalisierungsrate haben.
Mittels sogenannter „Machine-Learning“ Mustererkennungstools aus den umfangreich erhobenen klinischen Symptomen gelang es schließlich auch bei Long COVID weitere klinische Erscheinungsbilder zu differenzieren, die jeweils in der Tiroler wie auch in der Südtiroler Kohorte konsistent waren: „Neben milderen, vorwiegend mit Riech- und/oder Geschmackstörung assoziierten Phänotypen, zeigte die Hauptgruppe der Betroffenen mit Long COVID (Tirol: 49,3%, Südtirol: 55,6%) zwar keine anhaltende Hyposmie (verminderter Geruchssinn) oder Hypogeusie (Geschmacksstörung), aber eine hohe Anzahl von postakuten Multiorgan-Symptomen wie Erschöpfung, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Kurzatmigkeit, Herzrasen, Engegefühl im Brustkorb, Verdauungsprobleme und Hauterscheinungen sowie eine schlechte, selbst berichtete körperliche Erholung“, schildert Neurologe Raimund Helbok die ersten Erkenntnisse und ergänzt: „Die akute COVID-19 Erkrankung ist als Multi-Organ-Infektion anerkannt, die Spezifität der lang anhaltenden Beschwerdelast muss nun im weiteren Studien untersucht werden“.
Herausforderung für das Gesundheitssystem
„Anhaltende, postinfektiöse Beschwerden kennen wir auch bei anderen Erregern, aber die Fallzahl der Pandemie wird uns hier herausfordern“, betont Klinikdirektor Günter Weiss. Mit den Ergebnissen dieser Zwei-Kohorten-Studie, die in Tirol fortgesetzt wird, soll es nun in der interdisziplinären Zusammenarbeit gelingen, Versorgungskonzepte zu entwerfen, die der langwierigen Erholung nach COVID-19 entsprechen. „Ein Wissenstransfer zu den HausärztInnen für die individuelle Behandlung und Betreuung von Long COVID PatientInnen, bei der Koordination fachärztlicher Abklärungen und rehabilitativer Maßnahmen spielt hierbei eine zentrale Rolle“, schließt Pflegewissenschafter Dietmar Ausserhofer. Die Entwicklung eines integrierten und wissenschaftlich begleiteten Versorgungsmodells befindet sich in Tirol bereits in Ausarbeitung.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1093/cid/ciab978
Weitere Informationen:
https://www.i-med.ac.at/pr/presse/2021/57.html [Pressebild zum Herunterladen]
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
Deutsch