11.10.2019 11:51
Neuer Band zu Leben und Werk des Holocaust-Forschers Raul Hilberg erschienen
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Raul Hilberg (1926-2007) gilt als Gründungsvater der systematischen Holocaust-Forschung. 1961 veröffentlichte er die Studie “The Destruction of the European Jews” und setzte damit Maßstäbe. Angesichts der Bedeutung von Raul Hilberg ist es überraschend, dass sich die Forschung bislang nur sporadisch mit ihm beschäftigt hat. Eine Tagung des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) setzte sich erstmals intensiv mit seinem Werk und dessen Wirkung auseinander. Nun wurden die Ergebnisse veröffentlicht.
Die im Oktober 2017 von ZZF-Historiker Dr. René Schlott konzipierte Konferenz “Raul Hilberg und die Hilberg-Historiographie” fand große internationale Beachtung, denn noch heute gilt die Studie Hilbergs als Meilenstein der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutsche Reich. Der nun veröffentlichte Sammelband vereint mehrere Beiträge der Konferenz, die interessante Schlaglichter werfen auf bislang wenig beachtete Aspekte von Hilbergs Werk. Herausgeber René Schlott betont, dass es mit dem Band gelungen sei, “einerseits an offene Fragen der Holocaustforschung, etwa zum sogenannten ‚Führerbefehl‘ anzuschließen, andererseits mit einer Mischung aus Beiträgen etablierter und jüngerer Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen auch neue Forschungsimpulse zu setzen, die zu einem besseren Verständnis des Prozesses beitragen, in dem der Holocaust zum Gegenstand der Wissenschaft wurde.”
So analysiert Anna Corsten (Leipzig) die inhaltlich enge gleichzeitig aber problematische Beziehung von Hannah Arendt und Raul Hilberg. Sie wertet erstmals eine kürzlich im Archiv des Washingtoner Holocaustmuseums aufgefundene Tonaufzeichnung des seinerzeit Aufsehen erregenden Vortrages auf der Potsdamer Arendt-Konferenz 1997 aus, der einer emotionalen Abrechnung Hilbergs mit Arendt gleichkam. Unter dem Titel “Vieles bleibt ungesagt” beschäftigt sich Doris Bergen (Toronto) erstmals mit Gender-Aspekten in Hilbergs Leben und Werk und charakterisiert ihn mit Sisyphos vergleichend als “existentialistischen Helden”. Alfons Söllner (Chemnitz) untersucht das Verhältnis Hilbergs zu seinem Doktorvater Franz Neumann und analysiert zum ersten Mal eingehender die 1955 entstandene Masterarbeit Hilbergs mit dem Titel “The Role of the German Civil Service in the Destruction of the Jews”. Einen methodisch innovativen Blick auf die Sprache Hilbergs werfen Nicolas Berg (Leipzig) und Wulf Kansteiner (Aarhus). Berg macht die Lakonie als das dominierende Stilelement bei Hilberg aus – sie ist zugleich Methode und Form, um über das Unaussprechliche zu sprechen.
Darüber hinaus dokumentiert der Band die Tagung – unter anderem mit dem Abdruck der Abschlussstatements von bekannten Holocaust-Historikern wie Christopher Browning (Chapel Hill) und Frank Bajohr (München). Er gibt zudem ein Gespräch von Saul Friedländer (Los Angeles) und Norbert Frei (Jena) wieder, in dem Friedländer die methodischen und inhaltlichen Unterschiede zu den Forschungen Hilbergs herausstellt, aber auch ihre Gemeinsamkeit in der “Fassungslosigkeit” über das Geschehene betont. Hilbergs langjähriger deutscher Lektor Walter H. Pehle erinnert schließlich an die schwierige Publikationsgeschichte von “The Destruction of the European Jews” in Deutschland. Sein Beitrag enthält zehn Faksimile von erstmals veröffentlichten Dokumenten aus dem S. Fischer Verlagsarchiv. Ebenso sind in dem Band zwei Seiten aus einem Übersetzungsfragment des Berliner Politikwissenschaftlers Urs Müller-Plantenberg abgedruckt, das als die älteste erhalten gebliebene deutsche Übersetzung aus Hilbergs Werk gilt.
Die Publikation wurde durch einen großzügigen Druckkosten-Zuschuss des United States Holocaust Memorial Museums, Washington DC ermöglicht und erscheint in der renommierten Reihe “Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus” im Wallstein Verlag Göttingen.
Die Tagung “Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie” fand vom 18. bis 20. Oktober 2017 im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin statt. Sie wurde vom ZZF Potsdam organisiert in Kooperation mit dem Fritz Bauer Institut, dem Jack, Joseph and Morton Mandel Center for Advanced Holocaust Studies am United States Holocaust Memorial Museum Washington, dem Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, dem The Carolyn and Leonard Miller Center for Holocaust Studies der University of Vermont und dem Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. René Schlott
Tel.: 0331/74510-174
E-Mail: schlott@zzf-potsdam.de
Originalpublikation:
René Schlott (Hg.): Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie (= Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, 35), Göttingen 2019.
Weitere Informationen:
https://www.wallstein-verlag.de/9783835335301-raul-hilberg-und-die-holocaust-his… Eintrag auf der Website des Verlags
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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