Chronische Depressionen: Analyse von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit ermöglicht personalisierte Therapie



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29.08.2024 14:05

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

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Chronische Depressionen: Analyse von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit ermöglicht personalisierte Therapie

Misshandlungen in der Kindheit sind ein Hauptrisikofaktor für viele psychische und körperliche Erkrankungen. Trotz ihrer Relevanz werden diese Erfahrungen in der Medizin bislang nicht systematisch erfasst. In der Regel treten verschiedene Formen von Kindesmisshandlungen in Kombination auf. Forschende des LMU Klinikums und des Uniklinikums Freiburg haben eine neue Form der Analyse dieser komplexen Belastungsmuster entwickelt, mit deren Hilfe das Ansprechen auf ein spezifisches Therapieverfahren – „Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy“ (CBASP) – für Menschen mit chronischen Depressionen vorhergesagt werden kann. Die Ergebnisse wurden in „The Lancet Psychiatry“ veröffentlicht.

Misshandlungen in der Kindheit sind ein Hauptrisikofaktor für viele psychische und körperliche Erkrankungen. Trotz ihrer Relevanz werden diese Erfahrungen in der Medizin bislang nicht systematisch erfasst – nicht einmal im Vorfeld psychotherapeutischer Behandlungen. In der Regel treten verschiedene Formen von Kindesmisshandlungen in Kombination auf, wobei diese Komplexität in Studien oft vernachlässigt wird. Forschende der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des LMU Klinikums haben jetzt zusammen mit einer Forschergruppe des Universitätsklinikums Freiburg eine neue Form der Analyse dieser komplexen Belastungsmuster entwickelt, mit deren Hilfe das Ansprechen auf ein spezifisches Therapieverfahren vorhersagt werden kann. Bei dem Therapieverfahren handelt es sich um das „Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy“ (CBASP) für Menschen mit chronischen Depressionen.

„Menschen mit chronischer Depression und Beginn vor dem 21. Lebensjahr, die in ihrer Kindheit bestimmte Muster von Missbrauch erleben mussten, profitieren besonders von CBASP im Vergleich zu einer nicht-spezifischen Psychotherapie“, sagt Prof. Dr. Frank Padberg, einer der Hauptautoren der Studie. Damit sind Grundlagen gelegt für eine personalisierte Therapie der Betroffenen. Weitere Hauptautoren der neuen Studie sind unter anderem Prof. Dr. phil. Elisabeth Schramm und M.Sc. Moritz Elsaeßer von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Die Ergebnisse wurden gerade im renommierten Fachblatt „The Lancet Psychiatry“ veröffentlicht. Begleitend zur Studie ist ein Gespräch mit den Autoren im offiziellen Podcast des Journals erschienen.

Allein in Deutschland sind fünf bis sechs Millionen Menschen an einer Depression erkrankt. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen bleibt die Erkrankung über Jahre oder Jahrzehnte bestehen. CBASP wurde von dem US-amerikanischen Psychologen James P. McCullough speziell für Patienten mit chronischer Depression entwickelt und von Prof. Dr. Elisabeth Schramm seit 2007 in Deutschland eingeführt. „CBASP ist mittlerweile eine wertvolle Behandlungsoption“, erklärt Prof. Dr. Stephan Goerigk, einer der Erstautoren der neuen Studie. Viele Menschen mit chronischen Depressionen haben in ihrer Kindheit Misshandlungserfahrungen gemacht. Da CBASP speziell die frühen Beziehungserfahrungen im therapeutischen Kontext adressiert, bestand seit langem die Hypothese, dass diese Therapieform Menschen mit Misshandlungserfahrungen besonders helfen könnte.

Fünf Dimensionen von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit

Erfahrungen von Kindesmisshandlung umfassen ein großes Spektrum negativer zwischenmenschlicher Erfahrungen bis hin zu schwersten traumatisierenden Erlebnissen. Hierbei werden oft fünf Dimensionen unterschieden: emotionale Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch, körperliche Vernachlässigung, körperlicher Missbrauch und sexueller Missbrauch. Hinzu kommt: Im Alltag treten diese Dimensionen in verschiedenen Kombinationen auf. Zum Beispiel kann ein emotional vernachlässigtes Kind gleichzeitig auch emotionalen und körperlichen Missbrauch erleben. Die Komplexität des Zusammentreffens verschiedener Erfahrungen wird in den üblichen Analysen nicht berücksichtigt und klinisch praktisch nicht erfasst. Die Frage: Lässt die Art und die Kombination der fünf Belastungsdimensionen Rückschlüsse darauf zu, welche Patienten besonders von einer spezifischen Psychotherapie profitieren?

Neuer Ansatz basiert auf Clusteranalyse

Auf der Suche nach Antworten nahmen die Münchner Forschenden Kontakt zu Prof. Dr. Elisabeth Schramm auf, die 2017 eine wegweisende Therapie-Studie zu CBASP veröffentlicht hatte. In diese Studie wurden chronisch depressive Patienten mit einem Krankheitsbeginn vor dem 21. Lebensjahr eingeschlossen. Mit 75 Prozent wiesen die meisten von ihnen Erfahrungen von Kindheitsmisshandlung auf und die Studienteilnehmer hatten vor Behandlungsbeginn einen standardisierten Fragenbogen (Childhood Trauma Questionnaire) beantwortet, mit dem Art und Schweregrad der Misshandlung in der Kindheit erfasst werden können. Die Autoren haben nun einen neuen auf einer sogenannten Clusteranalyse basierten Ansatz entwickelt, mit dem sich die erinnerten biografischen Erfahrungen auch in Kombination auswerten lassen.

„Wir haben bei Menschen mit chronischer Depression sieben Belastungskonstellationen gefunden, die sich in Stärke und Muster der fünf Dimensionen von Misshandlungserfahrungen deutlich unterscheiden und mit denen sich der spätere Therapieerfolg vorhersagen lässt“, sagt Stephan Goerigk. Je komplexer die Dimensionen kombiniert sind und je schwerer die Patienten belastet sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie eher von CBASP als von einer unspezifischen Psychotherapie profitieren. Diese Ergebnisse waren selbst über einen Zeitraum von zwei Jahren nach Therapieende robust.

Bedeutung für die klinische Praxis

Für die klinische Praxis könnte der neue Analyseansatz sehr hilfreich sein, so Frank Padberg: „Eine einfach anwendbare Erhebung von Misshandlungserfahrungen in der Kindheit bietet die Grundlage für eine individuelle Therapieentscheidung, die die Aussicht auf ein Therapieansprechen bei Menschen mit chronischen Depressionen verbessert.“ Es ergeben sich hieraus zudem weitere Fragen, denen die Münchner und Freiburger Forschenden weiter nachgehen, unter anderem ob dieser Ansatz auch für andere Psychotherapieformen relevant ist, und welche Informationen zu Belastungsmustern am aussagekräftigsten sind.

In den aktuellen Leitlinien zur Therapie der Depression werden Empfehlungen für unterschiedliche Psychotherapieformen wenig differenziert behandelt. Die neue Studie wäre jedoch ein Indiz für eine spezifische Wirksamkeit von CBASP bei Patienten mit Erfahrungen von Kindesmisshandlung. Die Kosten für CBASP übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen und die Therapie kann ambulant, tagklinisch oder stationär erfolgen.

Die Psychiatrische Klinik des LMU Klinikums sowie die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg haben bereits vor über zehn Jahren stationäre CBASP-Programme für Menschen mit chronischer Depression etabliert. „Denn der Versorgungsbedarf“, so Frank Padberg, „ist erheblich; und es gibt bisher noch zu wenige in CBASP-qualifizierte Therapeuten.“


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Frank Padberg
Sektion für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
LMU Klinikum München
Campus Innenstadt
Tel.: +49 89 4400-53358
E-Mail: frank.padberg@med.uni-muenchen.de

Prof. Dr. Stephan Goerigk
Lehrstuhl für Methodenlehre
Charlotte Fresenius Hochschule
Standort München
Tel.: +49 89 2000373-06
E-Mail: stephan.goerigk@charlotte-fresenius-uni.de

Prof. Dr. phil. Elisabeth Schramm
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Freiburg
Tel: +49 761 27069670
E-Mail: elisabeth.schramm@uniklinik-freiburg.de


Originalpublikation:

Childhood Trauma Questionnaire-based child maltreatment profiles to predict efficacy of the Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy versus non-specific psychotherapy in adults with early-onset chronic depression: cluster analysis of data from a randomised controlled trial
Goerigk S, Elsaesser M, Reinhard MA, Kriston L, Härter M, Hautzinger M, Klein JP, McCullough JP Jr, Schramm E, Padberg F.
Lancet Psychiatry, 2024 Sep;11(9):709-719
DOI: https://doi.org/10.1016/S2215-0366(24)00209-8


Weitere Informationen:

http://Podcast zur Publikation:
http://The Lancet Psychiatry in conversation with: Frank Padberg and Stephan Goerigk on child maltreatment and psychotherapy
https://www.thelancet.com/multimedia/podcasts/in-conversation-with/lanpsy


Bilder


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


 

Quelle: IDW