Die Fruchtfliege und ihre kammförmigen Neuronen



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28.01.2021 10:28

Die Fruchtfliege und ihre kammförmigen Neuronen

Die Fruchtfliege ist einer der am besten untersuchten Organismen der Welt. Trotzdem lässt sie noch Fragen offen. Zum Beispiel, wie einige ihrer Neuronen Dendriten mit einer besonderen, kammähnlichen Form entwickeln. Wissenschaftler des ESI haben dies nun untersucht. Und dabei etwas Erstaunliches über die Rolle des Zufalls herausgefunden.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Der Körper der Fruchtfliege ist winzig. Die Frage, die er beantworten soll, groß: Wie optimieren seine Dendriten, also die Abschnitte einer Nervenzelle, die Reize empfangen, ihre Struktur? André Ferreira Castro, Neurowissenschaftler des Cuntz Lab am Ernst Strüngmann Institut (ESI) in Frankfurt, und seine Kollegen am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn haben versucht, dies herauszufinden. „Wir wollten wissen, welchen Regeln Dendriten folgen, wenn sie wachsen: Folgen sie einem inhärenten Bauplan und wie sie aussehen werden, ist daher völlig vorhersehbar? Oder wird ihr Wachstum von äußeren Faktoren bestimmt? Oder liegt dem allen ein ganz anderer Plan zugrunde?“, fasst André Ferreira Castro die Fragestellung des Artikels zusammen, der nun in der Fachzeitschrift eLife erschienen ist.
Die Forscher haben sich dafür auf eine Neuronenart der Fruchtfliege konzentriert, die fachsprachlich auch c1vpda genannt wird. Die Dendriten dieser Neuronen haben eine ganz besondere Form: Betrachtet man sie unter dem Mikroskop, erkennt man, dass sie so verzweigt gewachsen sind, dass sie wie kleine Kämme aussehen. Dadurch können sie die Kriechbewegungen der Larve besonders gut aufnehmen.

Fruchtfliege im Zeitraffer

Doch wie entsteht diese besondere Verzweigung, welcher Prozess liegt ihr zugrunde? Eine Frage, die bisher noch nicht ausreichend geklärt wurde. Um dies zu ändern, haben die ESI-Wissenschaftler mit der Forschungsgruppe von Gaia Tavosanis am DZNE zusammengearbeitet. Und sich die Fruchtfliege in verschiedenen Entwicklungsstadien genauer angesehen: nachdem das Ei gelegt wurde und nach dem Schlüpfen in verschiedenen Larvenstadien. Dafür haben sie in Embryos und Larven c1vpda mit Kontrastmittel präpariert, um die Entwicklung ihrer Dendriten zu sehen, im Zeitraffer zu filmen und anschließend auszuwerten. Dabei konnten sie eine Abfolge von Differenzierungsstadien aufzeigen: Bevor die Dendriten ihre Kammform erreichen, durchlaufen sie verschiedene Phasen, in denen sie (1) Äste ausbilden und (2) zum Teil wieder zurückziehen (Retraktion), bevor sie ihre finale Form (3) stabilisieren und (4) ausdehnen, weil das Tier wächst.
„Nachdem wir damit eine vermeintliche funktionelle Rolle der Retraktionsphase festgestellt haben, lautete die nächste Frage: Nach welchen Prinzipien läuft sie ab? Wie verbessert sie die Verzweigung, um die bestmögliche Funktionsfähigkeit der Dendriten zu erhalten?“, erzählt André Ferreira Castro. Um herauszufinden, nach welchen Regeln Dendriten wachsen und sich zurückziehen, erstellten er und seine Kollegen des Cuntz Lab auf Grundlage der Zeitraffer-Daten ein Computermodell, das den oben beschriebenen Differenzierungsprozess simuliert. Dafür nahmen sie drei Variablen hinzu: Anzahl der Verzweigungspunkte, Gesamtlänge, Fläche. „Jedes Mal, wenn wir die computergenerierten Daten mit realen Daten verglichen, stimmten sie überein. Wenn wir eine der Variablen herausnahmen, stimmte es nicht.“

Zufall bestimmt Wachstum

Das führt die Wissenschaftler zu einer erstaunlichen Erkenntnis: Ein stochastischer Prozess bestimmt, wie die hier untersuchten Dendriten wachsen. Also der Zufall. „Das hat uns echt am meisten überrascht! Und wir haben eine Weile gebraucht, bis wir es wirklich glauben konnten“, erinnert sich André Ferreira Castro. Kein Wunder, rechneten die Forscher doch eher damit, eine Art molekül-inhärenten Bauplan zu finden. André Ferreira Castro: „Das war für mich eines der faszinierendsten Ergebnisse: Es gibt keine strengen Regeln, sondern die Nervenzellen sind während ihrer Entwicklung flexibel und damit sehr anpassungsfähig. Gleichzeitig optimieren sie ihre Funktionsfähigkeit dabei kontinuierlich weiter.“ Obwohl die Fruchtfliege so klein und so gut erforscht ist, kann sie doch noch für große Überraschungen sorgen.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Hermann Cuntz, hermann.neuro@gmail.com


Originalpublikation:

Ferreira Castro, A., Baltruschat, L., Stürner, T., Amirhoushang, B., Jedlicka, P., Tavosanis, G., Cuntz, H. (2020). Achieving functional neuornal dendrite structure through sequential stochastic growth and retraction. eLife 9(e0920).

https://elifesciences.org/articles/60920


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch


Quelle: IDW