Eine Aufarbeitung ohne einfache Antworten



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13.06.2023 11:49

Eine Aufarbeitung ohne einfache Antworten

Ausstellung zeigt online und vor Ort Ergebnisse einer Studie der Uni Kiel zu Kinderverschickungen

Die sogenannten Kinderkuren, die von 1945 bis in die 1990er-Jahre hinein Millionen junger Menschen in Deutschland durchlaufen haben, sind erst seit wenigen Jahren ein öffentliches Thema. Allerdings ein sehr kontrovers diskutiertes. In enger Kooperation mit der Gemeinde hat die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) am Beispiel von St. Peter-Ording untersucht, was es damit auf sich hat. Dass es keine einfachen Antworten gibt, zeigt schon der Titel der daraus hervorgegangenen Ausstellung, die jetzt in St. Peter-Ording von dem unter anderem für Jugend und Soziales zuständigen Staatssekretär Johannes Albig eröffnet wurde und auch im Internet zu betrachten ist: „Kinderkurheime in St. Peter-Ording: Orte der Erholung, Orte der Gewalt?“

Seinen Anfang nahm dieses bundesweit bisher einmalige Projekt im März 2021, als eine Frau, die einst als „Verschickungskind“ in das Nordseebad gelangt war, in einem Brief an die Gemeinde Erfahrungen schilderte, die sie bis heute belasten. Bürgermeister Jürgen Ritter, frisch gewählt und noch nicht einmal ins Amt eingeführt, reagierte prompt, redete lange mit der Betroffenen und gründete eine kleine Arbeitsgruppe, die bereits im August beschloss, dieses nach Ritters Worten „absoluter Sensibilität“ bedürftige Kapitel der lokalen und auch der bundesdeutschen Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen.

Auf diese Weise kamen der Soziologe Prof. Dr. Peter Graeff und der Historiker Dr. Helge-Fabien Hertz von der Uni Kiel an Bord. Im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 betrieben sie zu dem Thema ein fächerübergreifendes Lehrforschungsprojekt, das auf ihrer zuvor erstellten Studie aufbaute. Mit Hilfe von mehr als zwei Dutzend sehr engagierten Studierenden wurden die Ergebnisse in ein Ausstellungsformat überführt, weiteres Archivmaterial ausgewertet und Interviews mit ehemals verschickten Kindern sowie mit in den Heimen tätig gewesenen Beschäftigten geführt.

Differenzierte Darstellung

Der Fundus an Quellen ist gerade für St. Peter-Ording groß. Wie der Landtagsabgeordnete Werner Kalinka (CDU) in seinem Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung betonte, wurden dort in gut vier Jahrzehnten schätzungsweise 325.000 Kinder für gewöhnlich drei bis sechs Wochen betreut. Und laut Claudia Johansson von der Gruppe „Verschickungskinder St. Peter-Ording“, die diese Ausstellung durch tiefgehende persönliche Einblicke in ihre Erinnerungen an die Geschehnisse vor Ort maßgeblich bereichert hat, gab es auf dem Gebiet der Gemeinde einst mindestens 43 Heime.

Für ganz Westdeutschland nennt Historiker Dr. Hertz von der Uni Kiel etwa 1.000 Heime und schätzungsweise rund zehn Millionen Verschickungen, es handele sich mithin um einen „Prozess systematisch angeordneter Kinderkuren“. Der große Vorteil der nun ausgestellten Ergebnisse des Projekts ist aus Sicht von Dr. Hertz und Professor Graeff, dass die Fokussierung allein auf St. Peter-Ording ein sehr engmaschiges Vorgehen erlaubte und entsprechend differenzierte Bilder ergab.
Genau das stellt die Ausstellung anhand von Schautafeln und anderen Mitteln dar.

Besonders eindrucksvoll gelingt es anhand einer großen Stele mit drehbaren Elementen, die einen typischen Tagesablauf aus Sicht des Personals, der Kinder und auch in aller Nüchternheit nach dem formalen Geschehen wiedergeben.

Unterschiedliche Perspektiven

Den Blickwinkel der Beschäftigten prägt dabei das oftmals auf ärztlichen Empfehlungen gegründete Bestreben, Kinder bei Bewegung, frischer Luft und nahrhaftem Essen zu stärken. Hingegen blieben etlichen der Kinder von damals Dinge wie Essenszwang, Zwang zum Mittagsschlaf, das Kontaktverbot zu den Eltern oder sogar Toilettenverbot zwecks Disziplinierung im Gedächtnis.

Die Ausstellung zeigt aber auch, dass insgesamt nach den aus heutiger Sicht vielfach bedenklichen nachkriegszeitlichen Methoden der Erziehung in Einrichtungen wie in Familien zu fragen ist. Und nicht zuletzt stießen die Forschenden immer wieder auf einst verschickte Kinder, die mit dieser Zeit überaus positive Erinnerungen verbinden.
Soziologe Prof. Peter Graeff wirbt deshalb darum, sich auf diese Komplexität einzulassen: „Wir tragen mit der Ausstellung Forschung in die Öffentlichkeit, die noch ganz am Anfang steht. Interessierte können die Ausstellung im Museum besuchen oder die Inhalte und Hintergründe virtuell auf der Homepage der CAU durchgehen. Wer sich auf diese Weise dem Thema nähert, wird feststellen, wie vielschichtig es ist und dass es keine einfachen Antworten bietet. Je mehr wir über den Umgang mit den erholungsbedürftigen Kindern in unserer jüngeren Vergangenheit herausfinden, desto besser verstehen wir auch heutige gesellschaftlichen Strukturen und Dynamiken.“

Informationen zur Ausstellung

Die Ausstellung „Kinderkurheime in St. Peter-Ording: Orte der Erholung, Orte der Gewalt?“ ist noch bis zum 23. Dezember 2023 im Museum Landschaft Eiderstedt, Olsdorfer Straße 6 in St. Peter-Ording zu sehen, und zwar dienstags bis donnerstags von 10:00 bis 17:00 Uhr, ab November dienstags bis sonntags von 11:00 bis 16:00 Uhr. Zur Online-Version lautet der Link: http://www.soziologie.uni-kiel.de/de/professuren/professur-fuer-soziologie-und-empirische-sozialforschung/forschung/kinderkurheime-in-st-peter-ording-orte-der-erholung-orte-der-gewalt

Fotos stehen zum Download bereit:
http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2023/158-claudia-johansson-zeitstrahl.jpg
Claudia Johansson von der Gruppe „Verschickungskinder St. Peter-Ording“ vor einer Zeittafel, die zeigt, dass Kinderverschickungen – nicht nur in Deutschland – schon im 19. Jahrhundert praktiziert wurden.
© Martin Geist

http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2023/158-hertz-ausstellung.jpg
Der Historiker Dr. Helge-Fabien Hertz an einer Stele, die einen typischen Tagesablauf im Kinderkurheim aus verschiedenen Perspektiven veranschaulicht.
© Martin Geist

Wissenschaftlicher Kontakt:
Prof. Dr. Peter Graeff
Institut für Sozialwissenschaft
Soziologie und empirische Sozialforschung
Telefon: 0431/880-5620
E-Mail: pgraeff@soziologie.uni-kiel.de

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Peter Graeff
Institut für Sozialwissenschaft
Soziologie und empirische Sozialforschung
Telefon: 0431/880-5620
E-Mail: pgraeff@soziologie.uni-kiel.de


Weitere Informationen:

http://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/158-kinderverschickung-ausstellung


Bilder


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch


 

Quelle: IDW