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05.06.2024 15:20
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Johanniskräuter: TU Braunschweig entdeckt wichtige Schritte der Biosynthese
Das Echte Johanniskraut gehört zu den bekanntesten Arzneipflanzen. Weltweit gibt es über 500 Arten. Ihre komplexen Inhaltsstoffe haben vielversprechende medizinische Eigenschaften. Allerdings sind ihre Isolierung und Synthese schwierig. Am Institut für Pharmazeutische Biologie der Technischen Universität Braunschweig haben Wissenschaftler*innen zwei neuartige Enzyme nachgewiesen, die alternative Molekülvarianten bilden. Das eröffnet die Chance, die komplexen Inhaltsstoffe biotechnologisch zu gewinnen. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse in der renommierten Fachzeitschrift „Nature Communications“.
Extrakte des Echten Johanniskrauts werden zur Behandlung von leichten bis mittelschweren Depressionen eingesetzt. Ihre Wirksamkeit ist in zahlreichen klinischen Studien belegt. Der herausragende Wirkstoff ist das Hyperforin. Über 1000 ähnliche Verbindungen wurden inzwischen in anderen Johanniskräutern nachgewiesen. Ihnen allen gemein ist die komplexe chemische Struktur. Deshalb ist die Totalsynthese schwierig, also die vollständige chemische Rekonstruktion der Naturstoffe aus Grundsubstanzen.
Auch die Isolierung der Wirkstoffe ist herausfordernd, da die Gehalte in den Pflanzen gering sind. Andererseits haben die Inhaltsstoffe viele interessante pharmakologische Wirkungen, etwa antitumorale (gegen Krebs wirksame) und antibakterielle Aktivitäten. Um eine alternative Quelle für ihre Gewinnung zu erschließen, ist das Institut für Pharmazeutische Biologie bestrebt, die Biosynthese aus Johanniskräutern in Mikroorganismen zu übertragen. Mikroorganismen sind vergleichsweise einfach in Bioreaktoren als Zellfabriken zu kultivieren. Prädestiniert für diesen Prozess ist das Zentrum für Pharmaverfahrenstechnik (PVZ) der TU Braunschweig.
Die Rekonstruktion der pflanzlichen Biosynthese in Mikroorganismen verlangt aber, dass die Schritte des Biosynthesewegs bekannt sind. Genau hier wurde jetzt ein Durchbruch erzielt. Die Inhaltsstoffe der Johanniskräuter umfassen größtenteils zwei Molekülvarianten, die aus derselben Vorstufe entstehen. Ein in China verbreitetes Johanniskraut (Hypericum sampsonii) ist besonders reich an komplexen Inhaltsstoffen, zudem sind beide Molekülvarianten vertreten.
2010 brachte Dr. Benye Liu diese Pflanze an die TU Braunschweig. Jetzt konnten zwei neue bifunktionelle Enzyme in dieser Pflanze nachgewiesen werden. Sie vergrößern die Vorstufe um einen Rest aus fünf Kohlenstoffatomen und bewerkstelligen zudem zwei positionsverschiedene Ringüberbrückungen. Daraus resultieren die beiden alternativen, verbrückten Molekülvarianten, die noch mit Seitenketten dekoriert sind. Die Analyse dieser enzymatischen Produkte sowie der komplexen Inhaltsstoffe erfolgte in enger Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Chemische Ökologie in Jena.
Ein weiterer Kooperationspartner war ein Institut der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Tianjin. Hier wurden für beide Enzyme mit Hilfe von Computersimulationen Modelle erstellt, um ihre regiodivergenten prenylativen Zyklisierungen zu erklären – biochemische Reaktionen, bei denen ein Kohlenwasserstoff (Isopren) einem offenkettigen Seitenrest des Ausgangsmoleküls hinzugefügt wird, was dann zur Bildung eines bizyklischen (zweiringförmigen) Produktmoleküls führt. Diese Reaktionen sind wichtig bei der Biosynthese von komplexen organischen Verbindungen und inspirierend für die Naturstoffchemie sowie die biotechnologische Herstellung von bioaktiven Molekülen.
Interessanterweise wird die gemeinsame Vorstufe im ersten Enzym aufrecht und im zweiten Enzym andersherum gebunden. Die für die Stabilisierung dieser Bindungsposen wesentlichen Aminosäuren wurden identifiziert und ihr gegenseitiger Austausch überführte das eine in das andere Enzym.
Wahrscheinlich sind die verbrückten Produkte der hier untersuchten Enzyme die Vorstufen für noch komplexere, käfigartige Verbindungen, die ebenfalls in Johanniskräutern vorkommen und von pharmazeutischem Interesse sind. Die Suche nach den nachgeschalteten Enzymen, die diese dann noch komplexeren Verbindungen aufbauen, sollte durch die bisherigen Erkenntnisse erleichtert sein. Somit steigt die Chance, entsprechende mikrobielle Produktionsplattformen zu erstellen, um die faszinierenden Inhaltsstoffe der Johanniskräuter für die präklinische Entwicklung verfügbar zu machen.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Ludger Beerhues
Technische Universität Braunschweig
Institut für Pharmazeutische Biologie
Mendelssohnstraße 1
38106 Braunschweig
Tel.: 0531 391-5689
E-Mail: l.beerhues@tu-braunschweig.de
www.tu-braunschweig.de/pharmbiol
Dr. Benye Liu
Technische Universität Braunschweig
Institut für Pharmazeutische Biologie
Mendelssohnstr. 1
38106 Braunschweig
Tel.: 0531 391-5686
E-Mail: b.liu@tu-braunschweig.de
www.tu-braunschweig.de/pharmbiol/
Originalpublikation:
Lukas Ernst, Hui Lyu, Pi Liu, Christian Paetz, Hesham M.B. Sayed, Tomke Meents, Hongwu Ma, Ludger Beerhues, Islam El-Awaad & Benye Liu (2024) Regiodivergent biosynthesis of bridged bicyclononanes. Nature Communications 15, 4525 (2024). https://www.nature.com/articles/s41467-024-48879-w
Weitere Informationen:
https://magazin.tu-braunschweig.de/pi-post/johanniskraeuter-tu-braunschweig-entd… Originalpressemeldung
https://www.nature.com/articles/s41467-024-48879-w Originalpublikation
https://magazin.tu-braunschweig.de/m-post/mit-hefe-wirkstoffe-produzieren/ Hintergrund
Bilder
Extrakte des Echten Johanniskrauts dienen der Behandlung von Depressionen. Verwendet werden die blüh …
Ludger Beerhues/TU Braunschweig
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch