Trotz fortgeschrittener Demenz: überwiegend gute Lebensqualität



Teilen: 

04.05.2021 14:12

Trotz fortgeschrittener Demenz: überwiegend gute Lebensqualität

EPYLOGE-Studie zeigt: Mehr Vorsorgeplanung und Unterstützung für pflegende Angehörige nötig

Literature advertisement

Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Menschen, die an einer fortgeschrittenen Demenz leiden, haben eine überwiegend gute Lebensqualität – unabhängig davon, ob die Erkrankung bei ihnen früh oder spät begonnen hat oder ob sie zu Hause oder in einem Pflegeheim betreut werden. Am Lebensende unterscheidet sich die „Qualität des Sterbens“ eher von Mensch zu Mensch als nach Art der Erkrankung oder Ort der Versorgung. Das sind die wichtigsten Ergebnisse einer Studie, die Forscherinnen aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München durchgeführt haben.

Demenz trifft nicht nur Senioren. Es gibt auch früh beginnende Formen der Erkrankung, die bereits bei Menschen ab 40 Jahren auftritt. Allein in Deutschland leiden mehr als 20.000 Personen zwischen 40 und 65 an einer Demenz. In der EPYLOGE-Studie (IssuEs in Palliative care for people in advanced and terminal stages of Young-onset and Late-Onset dementia in Germany) verglichen die Wissenschaftlerinnen Prof. Janine Diehl-Schmid, Dr. Julia Hartmann und Dr. Carola Roßmeier aus der Klinik für Psychiatrie erstmalig Betroffene mit früh und spät beginnender Demenz.

Die Neurologinnen Hartmann und Roßmeier untersuchten fast 200 Menschen mit fortgeschrittener Demenz im Heim und zu Hause. 93 von ihnen litten an früh beginnender, 98 an spät beginnender Demenz. Außerdem wurden 100 Hinterbliebene von kürzlich verstorbenen Menschen mit Demenz befragt. Zur Studie sind im März und April zwei Veröffentlichungen im Fachmagazin Journal of Alzheimers Disease erschienen (DOI: 10.3233/JAD-201302, 10.3233/JAD-210046).

Geringe Unterschiede in der Lebensqualität
Ein Ergebnis der Studie ist, dass die Lebensqualität der Menschen in fortgeschrittenen Stadien der Demenz überwiegend gut war, und zwar unabhängig davon, ob sie an einer früh oder spät beginnenden Demenz litten oder ob sie zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung betreut wurden. Damit konnte die Annahme widerlegt werden, dass Menschen mit früh beginnender Demenz in unserem Gesundheitssystem, das auf Ältere zugeschnitten ist, weniger gut versorgt sind.

Am Lebensende gab es nur geringe Unterschiede zwischen Patient*innen mit früh und spät einsetzender Demenz. Menschen mit früh beginnender Demenz hatten weniger physische Begleiterkrankungen und wurden in den letzten drei Lebensmonaten seltener in ein Krankenhaus eingewiesen. Insgesamt wurden 38 Prozent der an Demenz Erkrankten in den letzten drei Lebensmonaten mindestens einmal stationär behandelt. Die Angehörigen erlebten die Krankenhausaufenthalte sehr unterschiedlich – von „katastrophal“ bis „außerordentlich positiv“. Letzteres war vor allem in demenzfreundlichen Krankenhäusern und Stationen mit palliativer Expertise sowie der Möglichkeit zum „Rooming in“ für Angehörige der Fall.

Behandlung mit Psychopharmaka – zu viel und zu wenig
Die Studie identifizierte einzelne Betroffene, die unter quälenden Beschwerden wie Angst, Unruhe oder Schmerzen litten. Überdurchschnittlich häufig betroffen waren jüngere Patient*innen, die zum Zeitpunkt der Erfassung nicht älter 65 Jahre waren. Offensichtlich blieb das Leiden dieser Menschen entweder unerkannt oder wurde nicht ausreichend medikamentös behandelt. Auf der anderen Seite wurden 40 Prozent der Untersuchten mit Psychopharmaka, insbesondere Antipsychotika, behandelt. Hier zeigte sich, dass diese Medikamente häufig eher großzügig verordnet wurden, ohne dass im Verlauf geprüft wurde, ob sie überhaupt noch nötig sind. Interessanterweise hatten nur die Betroffenen mit früh beginnender Demenz bei einer antipsychotischen Therapie eine schlechtere Lebensqualität.

Nur 60 Prozent sterben „friedlich“
Die „Qualität des Sterbens“ unterschied sich zwischen den einzelnen Patient*innen deutlich. In 60 Prozent der Fälle gaben die Angehörigen an, die Patient*innen seien „friedlich“ verstorben. Bei den anderen 40 Prozent lagen jedoch deutlich belastende Symptome vor. Am häufigsten wurden Kurzatmigkeit und Unbehagen angeführt. Was die „Sterbequalität“ anging, konnten die Wissenschaftlerinnen keine Unterschiede zwischen den Gruppen mit früh oder spät beginnender Demenz ausmachen. Auch ob die Patient*innen in ihrer gewohnten Umgebung oder im Krankenhaus starben, machte keinen Unterschied.

Angehörige fordern mehr Unterstützung
Die meisten Demenzkranken, die am Lebensende in einer Pflegeeinrichtung lebten, starben dort. Hingegen wurden 38 Prozent der Menschen mit Demenz in häuslicher Versorgung vor ihrem Tod in ein Krankenhaus eingewiesen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Angehörige zu wenig professionell unterstützt und begleitet wurden, um den Betroffenen ein friedvolles Sterben zu Hause zu ermöglichen. Die bei EPYLOGE befragten pflegenden Angehörigen von Menschen mit fortgeschrittener Demenz zu Hause klagten häufig über zu wenig professionelle Hilfe und Überforderung.

Gesundheitliche Vorsorgeplanung
Nicht zuletzt wurde in der Studie auch die gesundheitliche Vorsorgeplanung der an Demenz Erkrankten untersucht. Mehr als zwei Drittel (70 Prozent) der Betroffenen hatten zwar eine Patientenverfügung. Überraschenderweise lagen jedoch nur bei rund einem Drittel der Patient*innen zusätzliche Dokumente zur gesundheitlichen Vorausplanung vor. Dazu zählen Therapiezielpläne, Krisenpläne und andere Anweisungen, etwa „nicht reanimieren“, „keine Krankenhauseinweisung“.

Empfehlungen für die Praxis
In einem Roundtable leiteten Expert*innen folgende Empfehlungen für die Praxis ab:

1) Bei einer fortgeschrittenen Demenz und ganz besonders am Lebensende ist eine palliative Versorgung erforderlich.
2) Ein wichtiges Ziel der palliativen Versorgung muss sein, frühzeitig belastende oder gar quälende Symptome zu identifizieren und mit medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapien zu lindern.
3) Schulungen und Fortbildungsveranstaltungen für Professionelle und pflegende Angehörige sind wünschenswert. Diese sollten vermitteln, wie Symptome wie Schmerzen, Angst und Unruhe am Lebensende erkannt werden können – selbst dann, wenn die Patient*innen wegen ihrer Demenzerkrankung nicht mehr kommunizieren können.
4) Ein Sterben in der gewohnten Umgebung ist generell zu bevorzugen. Allerdings kann eine Einweisung in ein geeignetes Krankenhaus mit Demenz- und Palliativexpertise in komplexen Fällen eine intensivere Behandlung belastender Symptome und damit ein symptomärmeres Sterben ermöglichen.
5) Koordinator*innen sollten den Patient*innen mit fortgeschrittener Demenz, die zu Hause versorgt werden, und ihren Familien zur Seite stehen und ihnen Beratung, Unterstützung und Entlastung vermitteln.
6) Eine gute Vorsorgeplanung mit regelmäßiger Überprüfung ergänzend zur Patientenverfügung schafft für Patient*innen, Angehörige und Behandelnde Klarheit.

Weitere Infos zur EPYLOGE-Studie und zum Thema Palliativversorgung bei Demenz sind auf der Website www.decide.med.tum.de zu finden.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Carola Roßmeier, carola.rossmeier@tum.de; Dr. Julia Hartmann, julia.hartmann@tum.de


Originalpublikation:

DOI: 10.3233/JAD-201302, DOI:10.3233/JAD-210046


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW