27.01.2021 16:25
Durchbruch bei der Modellierung von Nervenzellen beschleunigt die Hirnforschung
Nervenzellen im Gehirn verfügen über komplexe baumartige Verästelungen – die Dendriten – um Informationen zu verarbeiten. In der Künstlichen Intelligenz (KI) wurden diese Strukturen bisher allerdings vernachlässigt. Nun haben Berner Forschende eine Methode entwickelt, mit der sich der komplizierte Aufbau der Nervenzellen deutlich vereinfachen lässt, ohne an Genauigkeit zu verlieren. Dadurch könnten KI-Anwendungen künftig Informationen ähnlich wie das Gehirn verarbeiten.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Nervenzellen, die grundlegenden Einheiten des Gehirns, sind selber komplexe Computer. Sie empfangen Eingangssignale auf einer baumartigen Struktur, den Dendriten. Diese Struktur sammelt die Eingangssignale, verrechnet und vergleicht sie, um auf spezifische Aktivitätsmuster zu reagieren, die für das Gehirn relevant sind. Zudem haben die Dendriten eine Vielzahl von Formen und Ausprägungen, was darauf hindeutet, dass verschiedene Nervenzellen unterschiedliche Aufgaben im Gehirn haben.
Ein einfaches, aber präzises Modell
In den Neurowissenschaften gibt es seit jeher einen Kompromiss zwischen der Genauigkeit eines Modells einer Nervenzelle und ihrer biologischen Komplexität. So existieren detaillierte Computermodelle vieler verschiedener Arten von Dendriten. Diese Modelle imitieren das Verhalten realer Dendriten mit einem hohen Grad an Genauigkeit. Der Nachteil dieser Modelle ist jedoch, dass sie sehr komplex sind. So ist es schwierig, alle möglichen Reaktionen solcher Modelle erschöpfend zu erfassen und auf einem Computer zu simulieren. Selbst die leistungsstärksten Computer können nur einen kleinen Bruchteil der Nervenzellen in einem gegebenen Hirnareal simulieren.
Forschenden des Instituts für Physiologie der Universität Bern ist es nun gelungen, ein einfaches und doch präzises Modell von Dendriten zu entwickeln. Mit diesem Modell lassen sich Reaktionen von Nervenzellen leichter darstellen und Simulationen mit grossen Netzwerken von Nervenzellen mit Dendriten durchführen. Für die Anwendung in der KI kommt dies einem Durchbruch gleich. Die Studie wurde nun im Journal «eLife» publiziert.
Flexible Methode
Forschende am Institut für Physiologie der Universität Bern versuchen seit langem, die Rolle der Dendriten bei Abläufen im Gehirn zu verstehen. Einerseits konstruierten sie detaillierte Modelle von Dendriten aus experimentellen Messungen, andererseits erstellten sie Netzwerkmodelle mit hoch abstrakten Dendriten, um etwa die Erkennung von Objekten berechnen zu können. «Unser Ziel war, eine rechnerische Methode zu finden, um die komplexen Modelle zu vereinfachen und dabei ein hohes Mass an Genauigkeit beizubehalten», sagt Dr. Willem Wybo, federführender Wissenschaftler der Studie. Dabei konnten Dr. Wybo und Prof. Walter Senn, Leiter der theoretischen Neurowissenschaften am Institut für Physiologie, direkt auf experimentelle Erkenntnisse aus dem eigenen Haus zurückgreifen.
«Wir wollten, dass die Methode flexibel ist, so dass sie auf alle Arten von Dendriten angewendet werden kann. Wir wollten aber auch, dass sie so genau ist, dass sie die wichtigsten Funktionen eines jeden Dendriten präzise erfassen kann. Dies ermöglicht nun die Simulation von grossen Nervenzellen-Netzwerken inklusive Dendriten», erklärt Wybo.
«Unser Ansatz nutzt eine elegante mathematische Beziehung zwischen den Reaktionen von detaillierten Dendritenmodellen und von vereinfachten Dendritenmodellen», sagt Walter Senn. Aufgrund dieser mathematischen Beziehung lässt sich eine Optimierung linear über die Parameter des vereinfachten Modells erreichen. Senn ist auch Mitglied des Steering Committee des neu gegründeten Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) der Universität Bern und des Inselspitals Bern.
Open Source-Toolbox für KI-Anwendungen
Das wichtigste Ergebnis der Arbeit ist die Methode selbst: ein flexibler und dennoch genauer Weg, um reduzierte Modelle von Nervenzellen aus experimentellen Daten und morphologischen Rekonstruktionen zu erstellen. «Unsere Methode widerspricht der bisherigen Wahrnehmung, dass es entweder Genauigkeit oder Komplexität gibt, indem sie zeigt, dass extrem vereinfachte Modelle immer noch einen Grossteil der wichtigen Reaktionseigenschaften echter biologischer Nervenzellen erfassen können», sagt Senn.
So können in bestimmten Situationen klare Grenzen festgelegt werden, wie stark ein Dendrit vereinfacht werden kann, während seine wichtigen Reaktionseigenschaften erhalten bleiben. «Zudem vereinfacht unsere Methode die Ableitung von Nervenzellenmodellen direkt aus experimentellen Daten erheblich», betont Wybo. Die Methode wurde in einer Open Source-Software-Toolbox namens NEAT zusammengefasst (NEural Analysis Toolkit), die den Vereinfachungsprozess automatisiert. NEAT ist öffentlich auf der Plattform GitHub verfügbar.
Nächster Sprung in der KI-Technologie
Die Modelle von Nervenzellen, die derzeit in KI-Anwendungen zum Einsatz kommen, sind im Vergleich zu ihren biologischen Gegenstücken äusserst vereinfacht, da sie gar keine Dendriten enthalten. Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass die Einbeziehung von sehr einfachen, aber sehr präzisen Modellen in künstlichen neuronalen Netzwerken zum nächsten Sprung in der KI-Technologie führen wird. «Unser neuer Ansatz und das Toolkit stellen einen wichtigen Schritt zu diesem Ziel dar», sagt Wybo.
Diese Arbeit wurde vom Human Brain Project, dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und vom Europäischen Forschungsrat (ERC) unterstützt.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Willem Wybo, Institut für Physiologie, Universität Bern
Telefon: +41 31 631 8721 / willem.a.m.wybo@gmail.com
Originalpublikation:
Wybo WAM, Jordan J, Ellenberger B, Mengual UM, Nevian T und Senn W.: Data-driven
reduction of dendritic morphologies with preserved dendro-somatic responses. eLife, 26. Januar 2021, doi: 10.7554/eLife.60936 https://elifesciences.org/articles/60936
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