25.06.2021 20:00
Ein Hilferuf aus dem Gehirn
Wie Immunzellen bei Enzephalitis ins Gehirn gelockt werden
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Bestimmte Viren können eine Entzündung der Hirnhäute oder sogar des gesamten Hirns, die sogenannte Virus-Enzephalitis, hervorrufen. Dazu gehört neben dem Tollwutvirus und dem West Nil-Virus im Mausmodell auch das vesikuläre Stomatitis Virus (VSV). Die für die Bekämpfung der Infektion notwendigen Immunzellen müssen zunächst aus der Peripherie des Körpers ins Gehirn gelangen. Dazu produziert das Immunsystem Botenstoffe als Lockmittel.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Institut für Experimentelle Infektionsforschung am TWINCORE konnten nun zeigen, dass diese Signalkette bei der VSV-Infektion in den infizierten Nervenzellen selbst ihren Ausgangspunkt hat. Diesen Befund veröffentlichen sie jetzt im internationalen Top-Journal „Science Immunology“.
Die virale Enzephalitis ist eine seltene, aber schwerwiegende Erkrankung. Häufig sind bleibende Nervenschäden die Folge, die durch anhaltende Entzündungsreaktionen hervorgerufen werden. Als erste Abwehrmaßnahme bei einer Virusinfektion setzen die Zellen des angeborenen Immunsystems Moleküle frei, die einerseits direkt antiviral wirken. Andererseits werden auch Chemokine gebildet, die weitere Immunzellen an den Infektionsort locken. Das ist wichtig, denn die direkte antivirale Wirkung der Botenstoffe reicht meist nicht aus, um die Infektion im Gehirn zu heilen.
Die CD8-T-Zellen sind die wichtigsten Effektorzellen für die Bekämpfung von Viren. Sie werden in den Lymphknoten im Körper gebildet und dort für ihre spezifischen Aufgaben trainiert. An ihren Einsatzort werden sie durch Botenstoffe gelockt. Dabei handelt es sich unter anderem um Chemokine, die von anderen Immunzellen, aber auch von virusinfizierten Zellen freigesetzt werden.
„Im Falle einer VSV-Infektion durch die Nase wandern die Viren über die sensorischen Nerven aus der Nasenschleimhaut bis in den Riechkolben im Gehirn“, sagt Dr. Luca Ghita, Erstautor der Arbeit. „Wir konnten zeigen, dass dort die infizierten Neuronen die Infektion erspüren und über ein Adaptermolekül namens MyD88 eine Signalkette in Gang bringen. Am Ende steht die Ausschüttung von jenen Chemokinen, die die CD8-T-Zellen aus der Peripherie in das zentrale Nervensystem locken.“ Ghita war Doktorand und Postdoktorand am Institut für Experimentelle Infektionsforschung am TWINCORE und forscht mittlerweile an der Stanford University im US-amerikanischen Kalifornien.
Bemerkenswert ist, dass diese Signalkette von den infizierten Nervenzellen selbst ausgelöst wird. „Dieses Phänomen konnten wir als Erste im Zusammenhang mit einer viralen Enzephalitis zeigen. Das ist wie ein Hilferuf aus dem Gehirn an das Immunsystem“, ergänzt Ghita. Bisher war nicht ganz klar, welche Zellen im Gehirn VSV infiziert und wie die Immunreaktion ausgelöst wird.
„Wichtig ist, dass dieser Hilferuf auch gehört wird“, sagt Prof. Ulrich Kalinke, Direktor des Instituts für Experimentelle Infektionsforschung und Geschäftsführender Direktor des TWINCORE. „Wenn er verhallt und die adaptive Immunreaktion ausbleibt, können die entzündlichen Prozesse und die Virusvermehrung schwere Nervenschäden hervorrufen, die letztlich sogar tödlich sein können.“
Das verbesserte Verständnis vom Zusammenspiel der infizierten Zellen mit dem Immunsystem könnte zukünftig helfen, die Behandlung der Virus-Enzephalitis zu verbessern. „Das Ziel ist es, die Immunantwort gegen die Viren so anzupassen, dass die gefährlichen entzündlichen Prozesse unter Kontrolle bleiben“, sagt Kalinke.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Ulrich Kalinke, ulrich.kalinke@twincore.de
Tel: +49 (0)511 220027-112
Originalpublikation:
Luca Ghita, Julia Spanier, Chintan Chhatbar, Felix Mulenge, Andreas Pavlou,
Pia-Katharina Larsen, Inken Waltl, Yvonne Lueder, Moritz Kohls, Klaus Jung, Sonja M. Best,
Reinhold Förster, Martin Stangel, Dietmar Schreiner, Ulrich Kalinke
MyD88 signaling by neurons induces chemokines that recruit protective leukocytes to the virus-infected CNS
Sci. Immunol. 6, eabc9165 (2021)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch