Gendefekt macht Gehirn zu gross – oder zu klein



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22.08.2024 14:14

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Gendefekt macht Gehirn zu gross – oder zu klein

Ein Gen namens ZNRF3, das bei Krebs eine Rolle spielt, bringt auch das Gehirn durcheinander. Ist eine der beiden Gen-Kopien defekt, wird das Gehirn entweder zu gross oder zu klein, was diverse Krankheitssymptome zur Folge hat.

Vor fast einem Jahrzehnt hatten wir eine Patientin, die an einer sehr seltenen Krankheit litt: Sie hatte ein aussergewöhnlich kleines Gehirn, eine Sprachverzögerung und eine ektodermale Dysplasie – eine angeborene Krankheit, die hier Haare, Nägel und Zähne betrifft. Wir sequenzierten einen Teil ihrer DNA und fanden einen Defekt in einer der beiden Kopien des Gens ZNRF3. Dieses Gen wurde bisher nicht mit angeborenen Störungen in Verbindung gebracht. Der Defekt bewirkt die Bildung eines veränderten Proteins. Wir vermuteten also, dass dies die Ursache sein könnte.
Seitdem haben wir noch elf weitere Patient:innen aus der ganzen Welt gesammelt, bei denen unterschiedliche Veränderungen in demselben Gen gefunden wurden. Erstaunlicherweise zeigten die meisten von ihnen zwar auch unterschiedliche neurologische Entwicklungssymptome auf, hatten jedoch ein abnormal grosses Gehirn. Wir analysierten die fehlerhaften Genversionen im Labor und fanden heraus, dass es eine Korrelation gibt zwischen der Hirngrösse der Patient:innen und der Stelle, wo sich die Mutationen im Gen befinden. Nach einer langen diagnostischen Odyssee gelang es uns schliesslich, die genaue Krankheitsursache aufzudecken.

Seltene Krankheiten erfordern globale Zusammenarbeit

Da die hier beschriebenen Erkrankung extrem selten ist, nutzten wir die Möglichkeiten globaler Zusammenarbeit über professionelle Netzwerkdatenbanken. Dort trugen wir unser Kandidaten-Gen ein und erhielten Treffer aus aller Welt. So konnten wir insgesamt elf weitere Patient:innen mit verdächtigen Veränderungen im ZNRF3-Gen finden. Sieben von ihnen hatten Veränderungen, die zu einem fehlerhaften ZNRF3-Protein führen, während bei vieren eine verminderte Menge des ZNRF3-Proteins zu erwarten war. Von den sieben Personen mit einem defekten Protein wiesen sechs neurologische Entwicklungsprobleme mit einem abnormal grossen Gehirn auf, während eine Person eine tiefgreifende Entwicklungsverzögerung mit einem abnormal kleinen Gehirn zeigte. Die vier Personen mit nur einer funktionsfähigen Kopie zeigten keine neurologischen Symptome, dafür Fehlfunktionen in Herz, Nebenniere oder Niere. Patient:innen, die beide Genkopien verloren hatten, fanden wir nicht. Fehlt der Erbfaktor komplett, scheint Leben nicht möglich zu sein.

ZNRF3-Mutation betrifft auch Krebserkrankungen

Das ZNRF3-Gen reguliert die Menge der Zellen, die im Hirn und auch in anderen Organen gebildet werden. Mutationen in seiner DNA-Sequenz können daher zu einer unkontrollierten Zellvermehrung führen und werden mit einer Vielzahl von Tumoren wie Dickdarm- oder Nebennierenkrebs in Verbindung gebracht. Eine unserer Analysen ergab, dass es eine kleine, als «RING» bezeichnete Region des ZNRF3-Gens gibt, in der verglichen mit der restlicher Gensequenz viele der bei Krebserkrankungen gefundenen Mutationen zu finden sind. Auch bei den meisten Patient:innen mit abnormal grossen Gehirnen liegen die Mutationen in der RING-Region. Deshalb haben sie möglicherweise ein höheres Risiko, im Laufe ihres Lebens einen Tumor zu entwickeln.

Umwelteinflüsse spielen ebenfalls eine Rolle

Nebst Mutationen in der RING-Region, die mit abnormal grossen Gehirnen korrelieren, entdeckten wir auch Defekte in einer anderen, kleineren Region, die für die Interaktion mit einem Gen namens RSPO wichtig ist. Dieser stammte von einer Patientin mit einem abnormal kleinen Gehirn.
Nur ein Patient wich von diesem Muster ab: Die RING-Region seines ZNRF3-Gens war mutiert, dennoch hatte er ein abnorm kleines Gehirn. Wir verfolgten seine Familiengeschichte und fanden heraus, dass seine Mutter während der Schwangerschaft eine Vielzahl von Drogen konsumierte. Offenbar können bei dieser Erkrankung Umwelteinflüsse die genetischen Defekte überlagern.

Molekulare Defekte aufzeigen

Das Gen ZNRF3 sorgt über den sogenannten «Wnt-Signalweg» für das perfekte Gleichgewicht der biochemischen Signale, die für die Bildung der richtigen Anzahl von Gehirnzellen erforderlich sind. Das ZNRF3-Gen arbeitet mit dem RSPO-Gen zusammen, das ebenfalls mit dem Wnt-Signalweg interagiert. Im Labor haben wir verschiedene defekte Versionen des ZNRF3-Gens erzeugt und gemessen, wie die Wnt-Signalwirkung dadurch verändert wird. Wir entdeckten, dass die Defekte in der RING-Region (von den Patient:innen mit abnorm grossen Gehirnen) die Wnt-Signalwirkung verstärkten, während die Mutationen in der RSPO-interagierenden Region (von der Patientin mit abnorm kleinem Gehirn) diese verringerten.
Die Ergebnisse zeigen, dass die richtige Hirngrösse von einer ausbalancierten Wnt-Signalgebung abhängt. Ist sie zu stark oder zu schwach, kann das Gehirn zu gross bzw. zu klein werden. Computermodellierungen der defekten Versionen des ZNRF3-Proteins bestätigten unsere Befunde: Gestörte Enzymfunktionen gehen auf Mutationen in der RING-Region zurück und eine beeinträchtigte Bindung an das RSPO-Protein auf Mutationen in der RSPO-interagierenden Region.

Behandlungsoptionen und Krebsfrüherkennung

Es gibt bereits von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassene Medikamente, die den Wnt-Signalweg beeinflussen. Gemäss unseren Resultaten wäre es vermutlich sinnvoll, Wnt-Modulatoren bei Patient:innen mit defektem ZNRF3-Gen therapeutisch einzusetzen. Allerdings ist Vorsicht angebracht, denn ein Wnt-Hemmer sollte nur für Patient:innen mit einem abnorm grossen Gehirn in Betracht gezogen werden, nicht aber für Patient:innen mit einem abnorm kleinen Gehirn.
Das ZNRF3-Gen reiht sich in eine Reihe Dutzender anderer Gene ein, die am Wnt-Signalweg beteiligt sind und mit der Hirngrösse in Verbindung gebracht wurden. Es ist jedoch das bisher einzige dieser Gene, das zu gegensätzlichen Hirngrössen – dem so genannten Spiegeleffekt – mit einem ausgeprägten regionsspezifischen Muster führt. Da ein gestörter Wnt-Signalweg mit Krebs in Zusammenhang steht, könnten Überwachung und Intervention für Patienten mit einem fehlerhaften ZNRF3-Gen geplant und personalisiert werden.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. sc. nat. Paranchai Boonsawat und Prof. Dr. med. Anita Rauch, Direktorin des Instituts für Medizinische Genetik
Universität Zürich
anita.rauch@medgen.uzh.ch
+41 44 556 33 00


Originalpublikation:

Paranchai Boonsawat, Reza Asadollahi, Anita Rauch et al., Deleterious ZNRF3 germline variants cause neurodevelopmental disorders with mirror brain phenotypes via domain-specific effects on Wnt/β-catenin signaling, The American Journal of Human Genetics, 2024, doi.org/10.1016/j.ajhg.2024.07.016


Weitere Informationen:

https://www.news.uzh.ch/de/articles/news/2024/gendefekt-gehirn.html


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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


 

Quelle: IDW