Ist Religion ein überflüssiges Nebenprodukt der Evolution?

Video: Richard Dawkins zu Religion und Gott (deutsch)
httpv://www.youtube.com/watch?v=GPClXWr3tNw

Haben religiöse Menschen einen Vorteil, den sie lebensstrategisch nutzen können? Haben Religionen eine positive Rolle in der Evolution des Menschen gespielt? Oder sind Religionen eher ein Nebenprodukt der Evolution, ohne erkennbaren Sinn und Funktion? Hatten sie vormals eine Funktion, die inzwischen überflüssig geworden ist? Unterliegen Religionen vielleicht selbst der Evolution – schließlich sind auch viele Religionen bereits ausgestorben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der international renommierte Evolutionsbiologe und Ethnologe Prof. Pascal Boyer von der Washington University, St. Louis, der mit seinem Buch “Und Mensch schuf Gott” 2004 auch einer breiten deutschen Öffentlichkeit bekannt wurde.

Boyer spannt einen Bogen von der Hirnforschung über die Neurobiologie zur Sprachforschung, Psychologie, Evolutionsforschung bis hin zu den Religionswissenschaften. Die Kenntnisse darüber, wie sich das Gehirn im Laufe der Evolution entwickelt hat, bezieht der gebürtige Franzose auf das religiöse Verhalten der Menschen. Nach seinen Forschungen kam Religion während der letzten Eiszeit, also vor 50000 Jahren, zunächst in Europa auf, zeitgleich mit dem Kunsthandwerk. “Was wir Religion nennen”, schreibt Boyer, “entstand vermutlich zusammen mit dem menschlichen Geist in seiner heutigen Gestalt, ausgelöst durch eine plötzliche Veränderung in der geistigen Tätigkeit”. Religion, so Boyer, kann sich erst auf einem hohen komplexen Niveau der Hirnentwicklung einstellen.

Religionen allgemein deutet er als ein hilfreiches Konstrukt des menschlichen Geistes, das dem Menschen in einer spezifischen Lebenssituation (“kognitive Nische”) Überlebensvorteile verschafft. Boyer hat dazu den Begriff der “intuitiven Ontologie” geprägt: In der langen Geschichte des menschlichen Überlebenskampfes innerhalb der Evolution hat der Mensch Strategien entwickelt, unmittelbar, also ohne vollständigen Überblick über die Situation und ohne vollständige Kenntnis, angemessen zu agieren oder zu reagieren. Dass die Religion so wichtig für den Menschen werden kann, hat seinen Grund darin – so Boyer, “dass sie Erkenntnissysteme aktiviert, die lebenswichtig für uns sind, weil sie unsere stärksten Emotionen steuern, unseren Austausch mit anderen prägen, uns moralische Empfindungen eingeben und maßgebend für die Gruppenbildung sind”.

Allerdings ist sein Versuch, Religion aus evolutionärer Perspektive herzuleiten, in der Theologie nicht unumstritten. Inwieweit lassen sich tatsächlich Religionen ganz ohne Transzendenz aus der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns erklären? Gerade aus der Sicht der christlichen Theologie, in der die Transzendenz Gottes und seine Inkarnation entscheidend sind, dürfte diese Sicht nicht unproblematisch sein. Zudem ist der christliche Glaube gerade in Abgrenzung zu “naturalistischer Religiosität” entstanden. Mit gehöriger Skepsis betrachtet auch der angesehene Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf Boyers Thesen. Als “entscheidende Schwäche” identifiziert Graf Boyers Schwierigkeiten, religiöse Bilder von Tod und Leben mit den ihnen zugeschriebenen rituellen Praktiken zu deuten. Das vernachlässige sowohl die “prägnanten Gehalte” religiösen Bewusstseins als auch die starken Gefühle, die in diesen Riten geäußert würden. Graf lässt in seiner Kritik Boyer stellvertretend für alle Neurowissenschaftler eine Warnung vor den “dunklen Wassern” zukommen, auf denen sie mit ihren “windschnittigen Wissenschaftsjachten” herumschippern.

Mit der Frage nach einer Funktion der Religion im evolutionären Prozess der menschlichen Stammesgeschichte hebt sich Boyer deutlich von den negativen Bewertungen religiösen Verhaltens sowohl der Religionskritik des 19. Jahrhunderts als auch der aktuellen aggressiven atheistischen Attacken ab, wie sie etwa Richard Dawkins in seinem Buch “Der Gotteswahn” vorbringt. Die Vertreter des positivistischen Wissenschaftsideals des 19. Jahrhunderts (Auguste Comte, Ernst Haeckel, Wilhelm Ostwald) beurteilten Religion als eine überwundene Vorstufe des wissenschaftlichen Fortschritts. Zeitgenossen, die immer noch der Religion anhingen, seien daher ein hinterwäldlerischer Anachronismus. Auch die philosophische Religionskritik, etwa Ludwig Feuerbachs oder Karl Marx’ (“Religion ist Opium des Volkes”) betrachtete Religion als eine bereits überwundene Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes, die im Zuge des gesellschaftlichen Fortschritts bald “absterben” würde. Sigmund Freud schließlich meinte diagnostizieren zu müssen, dass Religion die Menschen neurotisch mache und man sie daher von dieser Krankheit heilen müsse. Quelle: idw