22.06.2021 09:00
Neuer Biomarker bei Multipler Sklerose ermöglicht frühe Risikoeinschätzung und gezielte Therapiewahl
Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, deren Verlauf sehr unterschiedlich sein kann. Für die Wahl der individuell passenden Therapie ist vor allem die treffsichere Vorhersage des weiteren Krankheitsverlaufs essentiell. NeurologInnen an der Medizin Uni Innsbruck konnten nun einen neuen Biomarker identifizieren, mit dem eine maßgeschneiderte Behandlung von MS in greifbare Nähe rücken könnte.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Innsbruck, am 22.06.2021: Die MS ist die häufigste neurologische Erkrankung, die im jungen Erwachsenenalter zu bleibender Behinderung führt. Dabei kommt es zu entzündlichen Veränderungen im zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark). Lähmungen, Sensibilitätsdefizite, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen, Gehbehinderung sowie kognitive Beeinträchtigungen können die Folge sein. Seit einigen Jahren stehen eine Reihe von Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, die die Krankheitsaktivität (sog. Schübe) auch bei schweren Verläufen günstig beeinflussen können.
Frühe Prognose optimiert personalisierte Therapie
Wie lange Betroffene ab Beginn der Erkrankung ohne Einschränkungen bleiben bzw. wann der nächste Krankheitsschub auftritt, war bislang allerdings kaum verlässlich vorherzusehen. Abgesehen von der Anzahl entzündlicher Läsionen im Gehirn, die mittels Magnetresonanztomographie (MRT) dargestellt werden können und eine gewisse Einschätzung des Krankheitsverlaufs erlauben, sind weitere Stratifizierungskriterien rar. „Um den Nutzen gegen die Risiken der verschiedenen Immuntherapien im Einzelfall abzuwägen, ist aber die Erstellung einer individuellen Prognose notwendig“, weiß der Neuroimmunologe Harald Hegen von der Innsbrucker Univ.-Klinik für Neurologie (Direktor: Stefan Kiechl). Gemeinsam mit seinem Team an der Medizin Uni Innsbruck sowie KollegInnen in Wien und Graz ist es ihm nun im Rahmen einer Beobachtungsstudie gelungen, ein im Liquor cerebrospinalis (Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit) nachweisbares Protein, die sog. κ-freien Leichtketten (κ-FLC, kappa free light chain), als unabhängigen Biomarker für die frühe Prognose der MS zu identifizieren.
Das Fachjournal Neurology: Neuroimmunology and Neuroinflammation berichtet über die vielversprechende Erkenntnis. „Der neue Biomarker birgt einen zusätzlichen Nutzen zu bereits etablierten Risikofaktoren und bringt uns einen Schritt näher zur individualisierten Behandlung von MS“, bestätigt Hegen.
κ-FLC Index als unabhängiger Marker bestätigt
In die Innsbrucker Studie wurden insgesamt 88 PatientInnen zum Zeitpunkt des ersten klinischen Ereignisses, etwa einer Rückenmarks- oder Sehnerventzündung, eingeschlossen. Das Durchschnittsalter lag bei 33 Jahren, zwei Drittel waren Frauen, damit entsprach die Kohorte einem auch in der Realität typischen PatientInnenkollektiv. Die StudienteilnehmerInnen wurden dann über vier Jahre lang beobachtet.
„Bei hoher Krankheitsaktivität ist die Zeit bis zum zweiten Schub kürzer, erfolgt dieser erst später, ist die Langzeitprognose besser. Eine Vorhersage zu Beginn der Erkrankung ist schwierig und erschwert oft die Therapieentscheidung“, so Hegen. In der Studie wurde nun anhand einer initialen Liquor-Probe der κ-FLC Index bestimmt und schließlich mit der Zeit bis zum Auftreten des zweiten Krankheitsschubes korreliert.
Das Ergebnis: PatientInnen mit einem hohen κ-FLC Index (über 100) hatten ein vierfach erhöhtes Risiko für einen schwereren Krankheitsverlauf, die Zeit bis zum zweiten Schub betrug im Schnitt lediglich 11 Monate, während bei PatientInnen mit einem niedrigen κ-FLC Index (100 oder weniger) durchschnittlich erst nach 36 Monaten ein zweiter Schub auftrat. „Auch unter Berücksichtigung bekannter prädiktiver Faktoren wie Alter, Geschlecht, MRT Läsionslast und -aktivität, erwies sich der κ-FLC Index als unabhängiger Marker, mit dem Patientinnen und Patienten mit höherer Krankheitsaktivität früh identifiziert und damit der für sie geeigneten Therapie zugeführt werden können“, betont Hegen.
In der Diagnostik der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit sind zum Nachweis von Entzündungsprozessen im zentralen Nervensystem bereits seit Jahrzehnten die sog. oligoklonalen Banden (Immunglobuline vom Typ IgG) etabliert, allerdings nur mit der Möglichkeit eines positiven oder negativen Ergebnisses. „Nachdem bei rund 90 Prozent der Patientinnen und Patienten mit MS ohnehin oligoklonale Banden nachweisbar sind, ist ihr prognostischer Wert sehr limitiert. Der κ-FLC Index erlaubt hier erstmals eine weitere Stratifizierung. Außerdem besticht dieser Marker durch niedrigere Kosten und deutlich schnellere Ergebnisverfügbarkeit“, so Hegen.
Steckbrief
Studienleiter Harald Hegen (38) ist gebürtiger Oberösterreicher und studierte in Innsbruck Medizin. Seit über zehn Jahren forscht der Neuroimmunologe an der Univ.-Klinik für Neurologie zur chronisch entzündlichen Erkrankung Multiple Sklerose.
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1212/NXI.0000000000001005
Weitere Informationen:
https://www.i-med.ac.at/pr/presse/2021/31.html [Pressebild zum Herunterladen]
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
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