09.03.2021 10:44
Neuer Therapieansatz für Senkung des Thromboserisikos entdeckt
Eine Studie der Forschungsgruppe von Christoph Binder, Principal Investigator am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie Professor an der Medizinischen Universität Wien, erklärt, wie Antikörper des Typs Immunglobulin-M (IgM) Thrombosen verhindern können.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Der thrombotische Verschluss von Blutgefäßen führt zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und venösen Thromboembolien und stellt die Hauptursache für frühzeitige Todesfälle weltweit dar. Eine neue Studie der Forschungsgruppe von Christoph Binder, Principal Investigator am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie Professor an der Medizinischen Universität Wien, erklärt nun, wie Antikörper des Typs Immunglobulin-M (IgM) Thrombosen verhindern können. Diese – so zeigt die im Fachjournal Blood veröffentlichte Studie – können sogenannte Mikrovesikel, Membranabschnürungen, die von Zellen freigesetzt werden und thrombosefördernd wirken, identifizieren, binden und so einen schützenden Effekt erzielen. Die Ergebnisse liefern damit einen neuen Ansatzpunkt zur Reduktion des Thromboserisikos durch IgM-Antikörper.
Antikörper sind ein wichtiger Bestandteil des Immunsystems. Diese Eiweißstoffe dienen im Körper einerseits zur Abwehr von Mikroben wie Bakterien, Pilze und Viren, andererseits zum Abbau von körpereigenem „Zellabfall“. Eine wesentliche Rolle spielen dabei natürlich vorkommende Antikörper vom Typ Immunglobulin-M (IgM). Im Kontext von Thrombosen belegten frühere Studien, dass Menschen mit einer niedrigen Zahl an IgM-Antikörpern ein erhöhtes Risiko für venöse Thrombosen aufweisen. Eine Forschungsgruppe unter der Leitung von Christoph Binder, Professor für Atheroskleroseforschung an der Medizinischen Universität Wien und Principal Investigator am CeMM, konnte in einer 2009 publizierten Studie zeigen, dass ein großer Anteil aller natürlichen IgM-Antikörper sogenannte oxidations-spezifische Epitope bindet, jene molekularen Strukturen, die dafür sorgen, dass absterbende Zellen vom Immunsystem erkannt und abtransportiert werden können. In der aktuellen Studie identifizierte Binders Forschungsgruppe jene Mechanismen, welche der antithrombotischen Wirkung von IgM-Antikörpern zugrunde liegen.
IgM-Antikörper binden gerinnungsfördernde Mikrovesikel
Mikrovesikel sind Membranabschnürungen, welche von der Zellmembran freigesetzt werden und eine wichtige Rolle in der Blutgerinnung und bei Thrombosen spielen. Die Studienautoren Georg Obermayer und Taras Afonyushkin aus Christoph Binders Forschungsgruppe, beide an CeMM und MedUni Wien affiliiert, konnten nun zeigen, dass natürliche IgM-Antikörper, welche oxidations-spezifische Epitope binden, die Blutgerinnung in humanen Proben und Thrombosen in Mäusen verhindern können, welche durch Mikrovesikel verursacht werden. „Wir gehen davon aus, dass genau diese spezifischen Mikrovesikel besonders entzündungs- und gerinnungsfördernd sind“, so die Wissenschafter. Sowohl bei Versuchen am Mausmodell als auch direkt an menschlichen Blutproben konnten die Wissenschafter zeigen, dass durch das Hinzufügen von IgM-Antikörpern die durch spezifische Mikrovesikel verursachte Blutgerinnung gehemmt wird. Umgekehrt zeigte sich auch, dass sich durch Depletion der IgM-Antikörper die Blutgerinnung und Thrombose verstärkte.
Möglicher Ansatzpunkt für zukünftige Therapien
Die Studienautoren erklären: „Die Studie lässt uns erstmals verstehen, warum Menschen mit einer niedrigen Zahl an natürlichen IgM-Antikörpern ein erhöhtes Thromboserisiko aufweisen.“ Projektleiter Christoph Binder ergänzt: „Die Ergebnisse bieten hohes Potenzial für neue Behandlungen zur Senkung des Thromboserisikos. Die Beeinflussung des IgM-Antikörper-Spiegels bei RisikopatientInnen könnte eine sinnvolle Ergänzung zur bisher etablierten Blutverdünnung darstellen, da diese bekanntermaßen auch mit Nebenwirkungen wie verstärkter Blutungsneigung bei Verletzungen einhergeht.“ Zudem leistet die Studie einen wichtigen Beitrag für die Wissenschaft. „Mikrovesikel wurden als Bestandteil der Blutgerinnung auf wissenschaftlicher Seite in den vergangenen Jahren zunehmend als wichtig anerkannt. Die Studie schaffte allerdings erstmals die Möglichkeit, sie therapeutisch zu beeinflussen“, so Binder.
Die Studie „Natural IgM antibodies inhibit microvesicle-driven coagulation and thrombosis“ erschien in der Zeitschrift Blood, online am 8. Dezember 2020. DOI: https://doi.org/10.1182/blood.2020007155.
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AutorInnen: Georg Obermayer*, Taras Afonyushkin*, Laura Göderle, Florian Puhm, Waltraud Schrottmaier, Soreen Taqi, Michael Schwameis, Cihan Ay, Ingrid Pabinger, Bernd Jilma, Alice Assinger, Nigel Mackman, Christoph J. Binder; *geteilte Erstautorenschaft
Förderung: Die Studie wurde vom Spezialforschungsbereich SFB-54 “InThro” des Wissenschaftsfonds FWF, dem Christian-Doppler-Labor für Innovative Therapieansätze in der Sepsis und dem CCHD (Cell Communication in Health and Disease) des FWF unterstützt.
Christoph Binder wurde 1973 in Wien geboren. Nach Abschluss seines Medizinstudiums an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien 1997, absolvierte er ein PhD-Programm an der University of California in San Diego. Im Jahr 2005 wechselte Christoph Binder am Institut für Labormedizin der Medizinischen Universität Wien, wo er 2009 zum Professor für Atheroskleroseforschung ernannt wurde. 2006 kam er als Principal Investigator an CeMM. Binder ist Spezialist für Labormedizin und leitet eine Forschungsgruppe, die sich mit der Rolle von Immunfunktionen bei Atherosklerose beschäftigt und wie diese für therapeutische Interventionen genutzt werden können. Er beschrieb erstmals die atheroprotektive Wirkung der Pneumokokken-Impfung und des natürlichen IgM T15/E06 (Binder et al., 2003). Seine Arbeitsgruppe entdeckte, dass bestimmte oxidationsspezifische Epitope, die aus der Lipidperoxidation stammen, wichtige Ziele für natürliche Antikörper (Chou et al., 2009) und für den Komplementfaktor H (Weismann et al., 2011) sind. Er identifizierte auch die atheroprotektiven Rollen und Mechanismen der Zytokine IL-5 (Binder et al., 2004) und IL-13 (Cardilo-Reis et al., 2012) sowie der natürlichen IgM-Antikörper (Gruber et al., 2016; Tsiantoulas et al., 2017). Seine jüngsten Arbeiten konzentrierten sich auf die Identifizierung und Charakterisierung von mitochondrialen extrazellulären Vesikeln (Puhm et al., C2019). Im Laufe seiner Karriere gewann Christoph Binder zahlreiche renommierte Stipendien und Preise und ist Autor von über 130 Publikationen in renommierten Fachzeitschriften wie Nature Medicine und Nature.
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Das CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine internationale, unabhängige und interdisziplinäre Forschungseinrichtung für molekulare Medizin unter wissenschaftlicher Leitung von Giulio Superti-Furga. Das CeMM orientiert sich an den medizinischen Erfordernissen und integriert Grundlagenforschung sowie klinische Expertise um innovative diagnostische und therapeutische Ansätze für eine Präzisionsmedizin zu entwickeln. Die Forschungsschwerpunkte sind Krebs, Entzündungen, Stoffwechsel- und Immunstörungen, sowie seltene Erkrankungen. Das Forschungsgebäude des Institutes befindet sich am Campus der Medizinischen Universität und des Allgemeinen Krankenhauses Wien. www.cemm.at
Die Medizinische Universität Wien (kurz: MedUni Wien) ist eine der traditionsreichsten medizinischen Ausbildungs- und Forschungsstätten Europas. Mit rund 8.000 Studierenden ist sie heute die größte medizinische Ausbildungsstätte im deutschsprachigen Raum. Mit 5.500 MitarbeiterInnen, 30 Universitätskliniken und zwei klinischen Instituten, 12 medizintheoretischen Zentren und zahlreichen hochspezialisierten Laboratorien zählt sie auch zu den bedeutendsten Spitzenforschungsinstitutionen Europas im biomedizinischen Bereich. www.meduniwien.ac.at
Originalpublikation:
https://doi.org/10.1182/blood.2020007155.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
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