07.12.2021 10:01
Volkskrankheit Migräne: Dem Tsunami im Gehirn auf der Spur
Ein Mausmodell hilft, den Auslösemechanismus von Migräne-Auren zu entschlüsseln
Rund jeder Zehnte in Deutschland ist von ihr betroffen: Migräne. Ein Drittel der Erkrankten leidet zusätzlich unter vorübergehenden neurologischen Symptomen. Bei ihnen geht zum Beispiel ein Flimmern vor den Augen dem Kopfschmerz voraus, die sogenannte Migräne-Aura. Im Gehirn beobachtet man während der Auren ein typisches Aktivitätsmuster: Nachdem eine starke Erregungswelle wie ein Tsunami über die Hirnrinde gezogen ist, folgt eine große Stille. Ein Forschungsteam aus Tübingen und München unter Federführung von Professor Tobias Freilinger ist nun im Tiermodell einem der zugrundeliegenden Mechanismen auf die Spur gekommen. Bei sogenannten Migräne-Mäusen, die die Erkrankung beim Menschen nachbilden, ist eine bestimmte Art von Nervenzellen überaktiv, berichtet das Team in seiner aktuellen Publikation im Journal of Clinical Investigation. Die Studie ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert worden.
„Wir können in diesen Tieren die neuronale Entsprechung der Migräne-Auren untersuchen: eine heftige Aktivitätswelle gefolgt von einer Ruhephase“, sagt Neurologe und Co-Studienleiter Professor Tobias Freilinger vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. Diese Migräne-Mäuse haben, wie Patientinnen und Patienten mit einer bestimmten erblichen Form der Migräne, einen Gendefekt. Der Fehler im Erbgut führt dazu, dass bestimmte Membranporen – sogenannte Natriumkanäle – stärker durchlässig werden. Die Forschenden beobachteten nun bei den Mäusen, dass Nervenzellen dadurch übermäßig aktiv wurden. „Allerdings nicht alle Neurone, sondern nur die, die Aktivität sogenannter Pyramidenzellen hemmen“, berichtet Freilinger. „Eine Überraschung für uns: Bislang hatte man überwiegend Pyramidenzellen unter Verdacht, Auslöser der Migräne-Auren zu sein“, sagt Neurowissenschaftler und Co-Studienleiter Professor Nikolaus Plesnila vom Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung des LMU Klinikums München.
Die krankhafte Hirnaktivität bei den Mäusen besserte sich, als die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Substanz verabreichten, die die übermäßige Natriumkanalaktivität blockiert. „Damit haben wir einen Ansatzpunkt für die medikamentöse Behandlung von Patientinnen und Patienten – zumindest bei dieser bestimmten Form der Migräne“, schlussfolgert die Tübinger Wissenschaftlerin und Co-Erstautorin Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch.
Migräne kann viele Auslöser haben. Oftmals spielen erbliche Faktoren eine Rolle. Die untersuchte Unterform ist weltweit sehr selten. Auren können bei verschiedenen Migräneformen vorkommen und betreffen fast ein Drittel aller Patientinnen und Patienten. Sie gehen dem Kopfschmerz voraus und dauern typischerweise zwischen 15 und 30 Minuten an. Meist handelt es sich um Sehstörungen, wie etwa ein Flimmern vor den Augen, das langsam durch das Sehfeld wandert. Auren können sich aber auch als andere vorübergehende neurologische Symptome zeigen. „Unsere Erkenntnisse tragen dazu bei, den generellen Auslösemechanismus von Migräne-Auren zu entschlüsseln“, erklärt Dr. Eva Auffenberg, eine der Erstautorinnen der Studie.
Die Studie ist aus einer translationalen Kollaboration zwischen den Professoren Tobias Freilinger und Holger Lerche am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und Universität Tübingen, sowie Martin Dichgans und Nikolaus Plesnila am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD), LMU Klinikum München, entstanden. Beteiligt war außerdem die Arbeitsgruppe von Professor Michael Pusch (Biophysics Institute, National Research Council, Genua, Italien). Gleichberechtige Erstautorinnen der Studie sind Dr. Eva Auffenberg (ISD, LMU Klinikum München und HIH, Universität Tübingen), Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch (HIH und Universität Tübingen), Dr. Raffaela Barbieri (Biophysics Institute, National Research Council, Genua, Italien) und Daniela Miely (HIH und Universität Tübingen).
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Tobias Freilinger
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Universität Tübingen
Hoppe-Seyler-Straße 3
72076 Tübingen
tobias.freilinger[at]uni-tuebingen.de
Aktuelle Anschrift:
Klinik für Neurologie, Klinikum Passau
Innstr. 76, 94032 Passau
Telefon +49 851-5300-3071
Prof. Dr. Nikolaus Plesnila
Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung
LMU Klinikum München
Feodor-Lynen Str. 17
81377 München
Telefon: 089 4400 46 220
E-Mail: nikolaus.plesnila[at]med.uni-muenchen.de
Prof. Holger Lerche
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Universität Tübingen
Hoppe-Seyler-Straße 3
72076 Tübingen
Telefon +49 7071 29-80442
holger.lerche[at]uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Auffenberg E., Hedrich UB, Barbieri R, Miely D, et al. (2021) Hyperexcitable interneurons trigger cortical spreading depression in an Scn1a migraine model. Journal of Clinical Investigation; e142202
doi: 10.1172/JCI142202
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Medizin, Psychologie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch