Wie das Gehirn Geist hervorbringt


Das vernetzte Gehirn.
Forscher analysieren das Verknüpfungsmuster der Nervenzellen im Gehirn, um dessen Arbeitsweise besser zu verstehen.

Wie das Gehirn unseren Geist hervorbringt ist noch immer ein großes Rätsel. Manche Forscher sehen den Grund dafür in der bisher üblichen separaten Untersuchung einzelner Bereiche und Funktionen, die den Blick auf das große Ganze versperrte. Sie halten es für aussichtsreicher, das Gehirn als riesiges Netzwerk miteinander verknüpfter Nervenzellen zu betrachten, und wollen – wie Spektrum der Wissenschaft in seinem Oktoberheft berichtet – aus dem Muster dieser Verknüpfungen seine Funktionsweise erschließen.

Einer von ihnen ist Dietmar Plenz vom National Institute of Mental Health der USA in Bethesda (Maryland). Er und seine Kollegen züchten Hirngewebestückchen in der Größe von Sesamkörnern in Kulturschalen. Mit 64 Elektroden, die sie hineinstechen, registrieren sie dann das spontane Feuern der Nervenzellen. Was sie dabei aufzeichnen, sind Salven schnell aufeinander folgender elektrischer Entladungen, die man als neuronale Lawinen bezeichnet.

Auf den ersten Blick scheint es so, als handle es sich um ein Zufallsmuster. In diesem Fall müssten jedoch winzige und großräumige Lawinen gleich häufig auftreten. Das ist aber nicht der Fall: Plenz und seine Kollegen beobachten kleine Exemplare viel öfter als große. Zeichnet man die Größenverteilung der Lawinen in einem Diagramm auf, ergibt sich eine glatte, abfallende Kurve. Wissenschaftler kennen diesen Kurvenverlauf aus anderen Zusammenhängen – etwa der Intensitätsverteilung von Erdbeben oder dem Muster der Erkrankungsfälle bei einer Epidemie. Er ist ein Merkmal komplexer Netzwerke, die Verbindungen über kurze und weite Distanzen enthalten. Die konkrete Form der Verteilungskurve erlaubt dabei Rückschlüsse auf das genaue Verknüpfungsmuster.

Plenz und seine Kollegen testeten eine Reihe verschieden konfigurierter Modellnetze im Computer, um herauszufinden, welche davon eine ähnliche Verteilung neuronaler Lawinen erzeugte ihre Hirngewebestücke. Die beste Übereinstimmung ergab eine Architektur mit 60 Neuronengruppen, deren Mitglieder alle direkten Kontakt zueinander hatten. Jeder solche “Cluster” war im Durchschnitt mit zehn weiteren verknüpft. Doch dieser Wert schwankte stark: Einige wenige Cluster waren mit vielen anderen verbunden, die meisten aber nur mit sehr wenigen. Wissenschaftler bezeichnen das als “Kleine-Welt-Netzwerk”. Seine Architektur hat zur Folge, dass eine Erregungswelle zwar überwiegend auf den Ursprungscluster beschränkt bleibt, aber über wenige Zwischenstationen auf jeden beliebigen anderen überschwappen kann.

Inzwischen verfolgen Neurowissenschaftler das Ziel, die geschätzten 100 Billionen Verknüpfungen zwischen allen 100 Milliarden Neuronen im Gehirn zu kartieren. Dazu haben die National Institutes of Health 2010 das mit 30 Millionen Dollar dotierte “Human Connectome Project” ins Leben gerufen. An ihm arbeitet auch Olaf Sporns von der Indiana University in Bloomington (USA) mit. Gemeinsam mit Patric Hagmann und dessen Neuroimaging-Gruppe an der Universität Lausanne (Schweiz) hat er Aufnahmen des menschlichen Gehirns mit einer speziellen Methode angefertigt, welche die Nervenfasern sichtbar macht, die verschiedene Regionen der Hirnrinde miteinander verbinden. Die beiden Wissenschaftler wählten annähernd 1000 Regionen aus und kartierten sämtliche Faserstränge zwischen ihnen. Das Ergebnis ähnelte dem Kleine-Welt-Netzwerk, das Plenz in den kleinen Gewebestückchen entdeckt hatte.

Selbst wenn das Konnektom-Projekt erfolgreich sein sollte, bleibt allerdings fraglich, ob die Resultate wirklich klar machen, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Wie schwierig die Aufgabe ist, lehrt die Erfahrung mit dem einfachsten im Detail bekannten Nervensystem: dem des Fadenwurms. Es besteht aus genau 302 Nervenzellen, deren Verknüpfungsmuster schon seit 20 Jahren vollständig bekannt ist. Trotzdem weiß immer noch niemand genau, wie dieses simple Netzwerk die Körperfunktionen und das Verhalten des Wurms steuert. (Quelle: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2011)

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