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16.05.2024 15:59
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Zöliakie: Neue Erkenntnisse über die Effekte von Gluten
Heute, am 16. Mai, ist Welt-Zöliakie-Tag. Zöliakie ist eine chronische Autoimmunerkrankung, die bei etwa einem Prozent der Weltbevölkerung auftritt. Sie wird durch den Verzehr von Glutenproteinen aus Weizen, Gerste, Roggen und einigen Hafersorten ausgelöst. Eine glutenfreie Ernährung schützt Zöliakie-Patient*innen vor schweren Darmschäden. Die Chemikerin Dr. Verónica Dodero von der Universität Bielefeld fand nun gemeinsam mit Fachkolleg*innen heraus, wie bestimmte Moleküle, die aus Gluten entstehen, bei Zöliakie das Syndrom Leaky Gut (durchlässiger Darm) auslösen.
Die zentrale Erkenntnis der Studie: Ein bestimmtes Eiweißpeptid, das bei aktiver Zöliakie gebildet wird, bildet Strukturen im Nanomaßstab, die sogenannten Oligomere, und reichert sich in einem Modell von Darmzellen an. Bei einem solchen Modell handelt es sich um gezüchtete Darmzellen, die im Labor wachsen. Die Fachbezeichnung des Moleküls lautet: deamidiertes 33-mer-Gliadin-Peptid (DGP). Das Studienteam hat nun entdeckt, dass eine solche Anhäufung von DGP-Oligomeren die dicht verschlossene Darmschleimhaut öffnen kann, was zum Leaky-Gut-Syndrom führt. Die Studie erschien in dem Fachmagazin „Angewandte Chemie“.
Weizenpeptide verursachen Leaky Gut
Wenn wir Weizen essen, kann unser Körper die Glutenproteine nicht vollständig abbauen. Dies kann zur Bildung großer Glutenfragmente (Peptide) im Darm führen. Forschende haben entdeckt, dass bei aktiver Zöliakie das Enzym Gewebetransglutaminase 2 (tTG2) ein bestimmtes Glutenpeptid verändert. Dies führt zur Bildung des 33-mer-DGP. Dies passiert normalerweise in einem Teil des Darms, der als Lamina propria bezeichnet wird. Neuere Studien haben jedoch gezeigt, dass dieser Prozess auch in der Darmschleimhaut stattfinden kann.
„Unser interdisziplinäres Team analysierte die Bildung von 33-mer-DGP-Oligomeren mit hochauflösender Mikroskopie und biophysikalischen Techniken. Wir stellten in einem Darmzellmodell eine erhöhte Durchlässigkeit fest, wenn sich DGP anreicherte“, berichtet Dr. Maria Georgina Herrera, die Erstautorin der Studie. Sie ist Forscherin an der Universität Buenos Aires in Argentinien und war Postdoktorandin in Bielefeld.
Wenn die Darmbarriere geschwächt ist
Das Leaky-Gut-Syndrom tritt auf, wenn die Darmschleimhaut durchlässig wird und schädliche Substanzen in den Blutkreislauf gelangen – das führt zu Entzündungsreaktionen und verschiedenen Krankheiten. Fachleute beschäftigt besonders, was in frühen Phasen der erhöhten Durchlässigkeit passiert. Überwiegend wird von der Theorie ausgegangen, dass chronische Entzündungen bei Zöliakie zu einem Leaky Gut führen. Es gibt jedoch eine zweite Theorie, die besagt, dass die Auswirkungen von Gluten auf die Zellen der Darmschleimhaut die Hauptursache sind. Demnach schädigt Gluten direkt die Zellen der Darmschleimhaut, macht sie durchlässig und löst dadurch chronische Entzündungen aus, die möglicherweise bei genetisch veranlagten Menschen zu Zöliakie führen.
Weil Gluten täglich konsumiert wird, stellt sich die Frage, welche molekularen Auslöser bei Zöliakie-Patient*innen zur erhöhten Darmdurchlässigkeit führen. Wenn sich 33-mer-DGP-Oligomere bilden, können sie möglicherweise das Zellnetzwerk der Darmschleimhaut schädigen. Dadurch gelangen Glutenpeptide, Bakterien und andere Schadstoffe leichter in den Blutkreislauf, was zu Entzündungen und bei Zöliakie zur Autoimmunreaktion führen kann.
„Unsere Ergebnisse unterstützen die medizinische Hypothese, dass eine durch Glutenpeptide verursachte Schwächung der Darmbarriere eine Ursache und nicht die Folge der Immunreaktion bei Zöliakie-Patienten ist“, erklärt Dr. Verónica Dodero, Hauptautorin der Studie von der Fakultät für Chemie der Universität Bielefeld.
Zusammenhang zwischen 33-mer-DGP und Zöliakie
Humane Leukozyten-Antigene (HLAs) sind Proteine auf der Oberfläche von Körperzellen. Sie spielen eine wichtige Rolle im Immunsystem, indem sie zwischen eigenen Zellen und Fremdstoffen wie Bakterien oder Viren unterscheiden. Bei Zöliakie hängen zwei bestimmte HLA-Proteine, HLA-DQ2 und HLA-DQ8, stark mit der Erkrankung zusammen. Das 33-mer-DGP passt exakt zu HLA-DQ2 oder HLA-DQ8, verbindet sich damit und löst so eine Immunreaktion mit Entzündungen und Zottenrückbildung im Dünndarm aus. Diese starke Wechselwirkung macht das DGP zu einem sogenannten Superantigen. Für Betroffene ist eine lebenslange glutenfreie Ernährung die einzige Therapie.
„Angewandte Chemie“
Diese Fachzeitschrift gehört zu den renommiertesten Journalen in der Chemie. Sie wird von der Gesellschaft Deutscher Chemiker herausgegeben. Laut dem Datendienstleister Clarivate hat die Zeitschrift einen Impaktfaktor von 16,6 (2022), womit sie zu den einflussreichsten Publikationen ihres Fachgebiets zählt.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Verónica Dodero, Universität Bielefeld
Fakultät für Chemie
Telefon 0521 106-2046
E-Mail: veronica.dodero@uni-bielefeld.de
Originalpublikation:
Maria G. Herrera, Maria J. Amundarain, Philipp W. Dörfler, Veronica I. Dodero: The Celiac-Disease Superantigen Oligomerizes and Increases Permeability in an Enterocyte Cell Model. Angewandte Chemie, https://doi.org/10.1002/anie.202317552, erschienen am 18. März 2024.
Weitere Informationen:
https://uni-bielefeld.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Viewer.aspx?id=bbda9e5e-819… Erklärvideo (auf Englisch) über die Studie
https://uni-bielefeld.canto.de/b/M3GVD Bildmaterial zum Artikel
Bilder
Eine Elektronenmikroskop-Aufnahme aus der Studie zeigt das problematische Peptid 33-mer-DGP mit stac …
Bild: Universität Bielefeld
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch