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16.07.2025 14:00
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‚Wissenschaft‘, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Heinrich-Wieland-Preis 2025: Pionier in der RNA-Forschung, der Kindern mit SMA eine Zukunft gab
Mainz, 16. Juli 2025. Die Boehringer Ingelheim Stiftung gibt den Gewinner des Heinrich-Wieland-Preises 2025 bekannt: Adrian R. Krainer vom Cold Spring Harbor Laboratory, USA. Er erhält die mit 250.000 EUR dotierte Auszeichnung für seine bahnbrechenden Erkenntnisse dazu, wie Zellen genetische Botschaften verändern, bevor sie Proteine herstellen – ein Prozess, der als prä-mRNA-Spleißen bekannt ist – und für die Nutzung dieses Wissens zur Entwicklung der ersten Therapie für spinale Muskelatrophie (SMA), eine genetische Erkrankung und bis dahin häufigste Todesursache im Kindesalter. Die Preisverleihung findet am Donnerstag, den 11. Dezember 2025, in München statt.
SMA ist eine seltene Erkrankung, aber nach Mukoviszidose die zweithäufigste schwere Erbkrankheit im Säuglings- und Kindesalter. Sie führt zu fortschreitender Muskelschwäche und Lähmung. Etwa 1 von 11.000 Babys wird mit SMA geboren; mehr als die Hälfte von ihnen hat die schwere Form, SMA Typ 1. Diese Kinder lernen weder zu sitzen noch zu gehen und haben Probleme beim Atmen, so dass sie beatmet werden müssen. Bis zu Adrian Krainers bahnbrechender Arbeit war die Diagnose mit SMA Typ 1 praktisch ein Todesurteil, denn die meisten betroffenen Kinder überlebten die ersten zwei Lebensjahre nicht.
Eine Idee nimmt Gestalt an
Vor etwa 25 Jahren wurde Adrian Krainer zu einem wissenschaftlichen Symposium über SMA eingeladen. Dort erfuhr er, dass die lebensbedrohliche Form dieser Krankheit mit einem Defekt im prä-mRNA-Spleißen zusammenhängt. Bereits einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, richtete er sein Labor neu aus mit dem Ziel, eine mögliche Therapie für SMA zu finden. Wie das?
Das Spleißen von prä-mRNA (Vorläufer-Boten-RNA) ist ein entscheidender Reifungsschritt, der zwischen der Transkription der genetischen Information von der DNA in die Boten-RNA und der Übersetzung dieser Botschaften in Proteine, die Bausteine der Zellen, stattfindet. Bei diesem Reifungsschritt werden Abschnitte eines Gens, die nicht für Proteine kodieren (Introns) aus einer prä-mRNA entfernt und die kodierenden Bereiche des Gens (Exons) zusammengefügt. Die daraus resultierende reife mRNA dient dann als Vorlage für die Proteinproduktion. Durch alternatives Spleißen können Zellen verschiedene Proteine aus demselben Gen herstellen, indem sie verschiedene Kombinationen von Exons zu unterschiedlichen reifen mRNAs zusammenfügen. So entsteht eine noch größere Vielfalt von Proteinen im Körper.
Adrian Krainer hat maßgeblich zu unserem Verständnis beigetragen, wie RNA-Spleißen funktioniert und wie es reguliert wird. Schon früh in seiner Karriere entwickelte er eine weit verbreitete Methode, mit der man RNA-Spleißen im Reagenzglas untersuchen kann, und identifizierte das erste Protein im Menschen, das Spleißen reguliert, einen sogenannten Spleißfaktor. Er fand heraus, dass die relativen Konzentrationen von gegensätzlichen Spleißaktivatoren und -repressoren das alternative Spleißen von prä-mRNAs steuern und dass Störungen dieses Gleichgewichts zu genetischen Erkrankungen und Krebs führen können.
Auf dem Symposium über SMA erfuhr Adrian Krainer, dass Patienten mit dieser Krankheit eine Mutation in dem Gen SMN1 tragen und deswegen keine ausreichende Menge von einem Protein herstellen, das speziell für Nervenzellen wichtig ist, die Muskeln steuern. Obwohl das menschliche Genom ein zweites, fast identisches Gen enthält, SMN2, kann dieses nicht vollständig für ein fehlerhaftes SMN1 kompensieren. Ein kleiner Unterschied in der Gensequenz von SMN2 führt dazu, dass es alternativ gespleißt wird und deswegen nur begrenzte Mengen des erforderlichen Proteins produziert. Adrian Krainer erkannte: Wenn er versteht, wie die Regulation des Spleißens bei Menschen mit SMA auf molekularer Ebene funktioniert, könnte er dadurch einen neuen Weg zur Bekämpfung dieser verheerenden Krankheit finden.
Nusinersen [oder Sprinraza] – ein bahnbrechendes ASO-Medikament
Durch sorgfältige Analysen entdeckte Adrian Krainer, dass SMN2 alternativ gespleißt wird, weil ein Spleißaktivator nicht an die SMN2-prä-mRNA bindet. Im Jahr 2004 begann er, mit Frank Bennett und dessen Team bei Ionis Pharmaceuticals zusammenzuarbeiten. Gemeinsam entwickelten sie ein kurzes RNA-ähnliches Molekül – ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid (ASO) –, das die Bindung eines Spleißrepressors an anderer Stelle der SMN2-prä-mRNA blockiert. Dadurch kann der Spleißaktivator binden und die prä-mRNA wird so gespleißt, dass genügend funktionelles Protein entsteht, um ein fehlerhaftes SMN1 zu kompensieren, zumindest in einem transgenen Mausmodell der SMA, das das menschliche SMN2-Gen enthält. Sie veröffentlichten ihre Ergebnisse erstmals im Jahr 2008, und nur drei Jahre später starteten die ersten klinischen Studien mit ihrem ASO (Nusinersen) bei Kindern mit SMA. In den nächsten fünf Jahren folgten mehrere weitere klinische Studien, die 2016 in der Zulassung von Nusinersen – heute vermarktet unter dem Namen Spinraza – durch die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) und 2017 durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) gipfelten. Seitdem wurden mehr als 14.000 SMA-Patienten mit dieser bahnbrechenden Therapie behandelt.
“Adrian Krainer ist ein herausragender Wissenschaftler, dessen bahnbrechende Erkenntnisse in der Grundlagenforschung in ganzer Tragweite ihre Bedeutung für die menschliche Gesundheit entfaltet haben“, sagt Franz-Ulrich Hartl, Vorsitzender des wissenschaftlichen Kuratoriums, das die Gewinner des Heinrich-Wieland-Preises aus den zahlreichen Nominierungen auswählt, die jedes Jahr bei der Boehringer Ingelheim Stiftung (BIS) eingereicht werden. „Er hat den molekularen Mechanismus hinter einem Spleißdefekt bei SMA-Patienten entschlüsselt und dadurch einen völlig neuen Ansatz zu dessen Korrektur entwickelt. Das Konzept der ASO-Therapie ist sehr vielversprechend für die Behandlung weiterer neurologischer Erkrankungen und darüber hinaus.“ Christoph Boehringer, Vorsitzender des Vorstands der BIS, fügt hinzu: „Was mit der Neugier eines leidenschaftlichen Forschers begann, hat sich zu einer Therapie entwickelt, die es Kindern erstmals ermöglicht, zu sitzen, zu stehen und zu gehen. Adrian Krainers Beispiel zeigt, wie entscheidend Freiheit und optimale Bedingungen für die Grundlagenforschung sind – nicht nur für den akademischen und wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch für die Verbesserung der menschlichen Gesundheit.“
Heinrich-Wieland-Preis
Mit dieser internationalen Auszeichnung werden herausragende Forschungsarbeiten zu biologisch aktiven Molekülen und Systemen in den Bereichen Chemie, Biochemie und Physiologie sowie deren klinische Bedeutung gewürdigt. Der mit 250.000 EUR dotierte Preis ist nach dem Nobelpreisträger Heinrich Otto Wieland (1877–1957) benannt und wird seit 1964 jährlich verliehen. Er zählt zu den renommiertesten Auszeichnungen für lebenswissenschaftliche Grundlagenforschung in Europa.
Jedes Jahr veröffentlicht die BIS einen Nominierungsaufruf für den Preis. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt können Vorschläge für den Preis einreichen; Selbstnominierungen sind nicht zulässig. Ein internationales Kuratorium, bestehend aus neun weltweit anerkannten Forscherinnen und Forschern, wählt die Preisträgerinnen und Preisträger aus den eingereichten Nominierungen aus. Das Kuratorium unterstützt den Preis ehrenamtlich.
Von den vielen Preisträgerinnen und Preisträgern erhielten fünf später den Nobelpreis: Michael Brown, Joseph Goldstein, Bengt Samuelsson, James Rothman, und Carolyn Bertozzi.
Boehringer Ingelheim Stiftung
Die Boehringer Ingelheim Stiftung ist eine rechtlich selbstständige, gemeinnützige Stiftung und fördert die medizinische, biologische, chemische und pharmazeutische Wissenschaft. Errichtet wurde sie 1977 von Hubertus Liebrecht, einem Mitglied der Gesellschafterfamilie des Unternehmens Boehringer Ingelheim. Durch ihre Förderprogramme Exploration Grants, Plus 3 und Rise up! unterstützt sie exzellente Forschende in entscheidenden Karrierephasen. Zudem verleiht sie den renommierten Heinrich-Wieland-Preis sowie Preise für aufstrebende wissenschaftliche Talente. Außerdem fördert sie institutionelle Projekte in den Lebenswissenschaften, wie das AITHYRA-Institut in Wien und einen neuen Forschungsbereich am Zentrum für Systembiologie in Dresden (BioAI Dresden), die Biomedizin mit KI verbinden. Weitere Institute, die die Stiftung fördert, sind das Institut für Molekulare Biologie (IMB) in Mainz und das European Molecular Biology Laboratory (EMBL) in Heidelberg.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Boehringer Ingelheim Stiftung, Dr. Sabine Löwer, Referentin, Web: www.boehringer-ingelheim-stiftung.de
Weitere Informationen:
https://www.boehringer-ingelheim-stiftung.de/wissenschaftspreise/heinrich-wielan…
Bilder
Adrian R. Krainer, Cold Spring Harbor Laboratory, USA
Copyright: Len Marks Photography, 2022/CSHL
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wettbewerbe / Auszeichnungen
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