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13.02.2025 20:00
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Dessertmagen entsteht im Gehirn – Nervenzellen, die uns signalisieren, dass wir satt sind, machen auch Lust auf Süßes
• Nervenzellen, die Sättigung signalisieren, machen auch Lust auf Süßes, indem sie das Opiat ß-Endorphin ausschütten, welches ein Belohnungsgefühl auslöst.
• Der „Dessert-Magen-Signalweg“ wird bei Mäusen und Menschen schon bei bloßer Wahrnehmung aktiviert, was evolutionär sinnvoll ist, da Zucker schnell Energie liefert.
• Blockade von Opiatrezeptoren als mögliche Ergänzung zu Therapien gegen Übergewicht
Wer kennt das nicht? Das große Essen ist vorbei, man ist satt, aber die Lust auf Süßes bleibt. Forschende vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung haben nun entdeckt, dass das, was wir den „Dessertmagen“ nennen, im Gehirn verankert ist. Dieselben Nervenzellen, die uns nach einer Mahlzeit ein Sättigungsgefühl geben, sorgen auch dafür, dass wir noch Lust auf Süßigkeiten haben.
Um die Ursache des „Dessertmagens“ zu finden, untersuchten die Forschenden die Reaktion von Mäusen auf Zucker und stellten fest, dass Mäuse völlig gesättigt waren, trotzdem noch Desserts essen. Untersuchungen des Gehirns zeigten, dass eine Gruppe von Nervenzellen, die so genannten POMC-Neuronen, dafür verantwortlich ist. Diese Neuronen werden aktiv, sobald der Körper Nahrung aufgenommen hat, und unterdrücken den Appetit.
Wenn Mäuse satt sind und Süßes fressen, schütten diese Nervenzellen nicht nur Botenstoffe aus, die dem Körper Sättigung signalisieren, sondern auch das körpereigene Opiat ß-Endorphin. Dieses wirkt auf andere Nervenzellen mit Opiatrezeptoren und löst ein Belohnungsgefühl aus, das die Mäuse dazu veranlasst, noch mehr Zucker zu essen. Dieser Schaltkreis wird immer dann aktiviert, wenn die Mäuse Zucker fressen, nicht aber wenn sie normales oder fetthaltiges Futter zu sich nehmen. Blockierten die Forschenden diesen Weg, verzichteten die Mäuse auf zusätzlichen Zucker. Dieser Effekt konnte nur bei satten Tieren beobachtet werden. Bei hungrigen Mäusen zeigte die Hemmung der ß-Endorphin-Freisetzung keine Wirkung.
Interessanterweise wurde dieser Mechanismus bereits aktiviert, wenn die Mäuse den Zucker nur wahrnahmen, ohne ihn zu essen. Außerdem wurde das Opiat auch in der „Dessertmagen-Region“ im Gehirn von Mäusen freigesetzt, die nie zuvor Zucker gefressen hatten. Sobald die erste Zuckerlösung in den Mund der Mäuse gelangte, wurde der Schaltkreis aktiviert und durch weitere Zuckergaben deutlich verstärkt.
Wie verhält es sich beim Menschen?
Die Wissenschaftler führten Hirnscans an Versuchspersonen durch, die über einen Schlauch eine Zuckerlösung zu sich nehmen konnten. Sie beobachteten, dass beim Menschen die gleiche Hirnregion auf den Zucker reagierte. In dieser Region befinden sich, wie auch bei Mäusen, viele Opiatrezeptoren in der Nähe von Sättigungsneuronen.
„Aus evolutionärer Sicht macht das Sinn: Zucker ist in der Natur selten, liefert aber schnell Energie. Das Gehirn ist so programmiert, dass es die Aufnahme von Zucker immer dann steuert, wenn er verfügbar ist“, erklärt Henning Fenselau, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung und Leiter der Studie.
Relevanz für die Behandlung von Übergewicht
Die Ergebnisse der Forschungsgruppe könnten auch für die Behandlung von Übergewicht von Bedeutung sein. „Es gibt bereits Medikamente, die die Opiatrezeptoren im Gehirn blockieren, aber der Gewichtsverlust ist geringer als bei den so genannten Diät-Spritzen. Wir glauben, dass eine Kombination mit ihnen oder auch mit anderen Therapien, sinnvoll sein könnte. Das müssen wir aber noch untersuchen“, sagt Fenselau.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. Henning Fenselau, Forschungsgruppenleiter, Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung
Originalpublikation:
Marielle Minère, Hannah Wilhelms, Bojana Kuzmanovic, Sofia Lundh, Debora Fusca, Alina Claßen, Stav Shtiglitz, Yael Prilutski, Itay Talpir, Lin Tian, Brigitte Kieffer, Jon Davis, Peter Kloppenburg, Marc Tittgemeyer, Yoav Livneh, Henning Fenselau
Thalamic opioids from POMC satiety neurons switch on sugar appetite
Science, 14.2.2025
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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