06.01.2021 13:27
Ein prognostischer Alzheimer-Blutest im symptomfreien Zustand
Mithilfe eines Bluttests hat ein deutsch-niederländisches Forschungsteam das Alzheimer-Risiko von Menschen prognostiziert, die laut klinischer Diagnose nicht an Alzheimer litten, aber sich selbst als kognitiv beeinträchtigt empfanden (Subjective Cognitive Declined, SCD). Die Forscherinnen und Forscher analysierten Blutproben einer SCD-Kohorte, die an der Amsterdamer Universitätsklinik begleitet wird. Mit einem an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) entwickelten Test, dem Immuno-Infrarot-Sensor, identifizierten sie bei Studieneintritt alle 22 Probandinnen und Probanden, die sechs Jahre später an Alzheimer oder einer Vorstufe, dem Mild Cognitive Impairment, erkrankten.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Der Test zeigte auch, welche Probanden nur ein sehr geringes Risiko hatten, später eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln. Die Ergebnisse beschreibt das Team in der Zeitschrift „Alzheimer’s Research and Therapy“, online veröffentlicht am 24. Dezember 2020.
Für die Studie kooperierte das Team um Biophysik-Professor Dr. Klaus Gerwert und Julia Stockmann vom Bochumer Forschungszentrum für Proteindiagnostik (Prodi) mit der RUB-Statistikerin Prof. Dr. Nina Timmesfeld, Abteilung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, sowie Forscherinnen und Forschern der Freien Universität Amsterdam unter Leitung von Prof. Dr. Charlotte Teunissen und Prof. Dr. Philip Scheltens.
Sensor erkennt fehlgefaltetes Protein im Blut
Die SCD-Kohorte umfasste 203 Personen. Bei Studieneintritt wurden von allen Blutproben entnommen und mit dem patentierten Immuno-Infrarot-Sensor analysiert, der die Fehlfaltung des für Alzheimer relevanten Amyloid-beta (Aβ)-Peptids erkennt. Außerdem durchliefen die Probandinnen und Probanden eine ausführliche Alzheimer-Diagnostik; zum Studieneintritt lieferte diese bei keiner der untersuchten Personen eine Alzheimer-Diagnose. Der Immuno-Infrarot-Sensor hingegen detektierte bei 22 Probanden fehlgefaltete Aβ-Peptide und somit ein erhöhtes Alzheimer-Risiko. All diese Personen erkrankten im Lauf der folgenden sechs Jahre. Bei Probanden, die eine leichte Fehlfaltung zeigten, dauerte es im Mittel länger (3,4 Jahre) bis zur Erkrankung als bei Probanden mit starker Aβ-Fehlfaltung (2,2 Jahre).
Zusammen mit der Statistikerin Nina Timmesfeld entwickelten die Forscher ein Modell, um das Risiko vorherzusagen, an klinischem Alzheimer zu erkranken. Demnach haben SCD-Probanden mit leichter Fehlfaltung ein 11-fach höheres Risiko und SCD-Probanden mit starker Fehlfaltung ein 19-fach höheres Risiko, in den folgenden sechs Jahren an Alzheimer zu erkranken, als Probanden ohne fehlgefaltetes Aβ-Peptid. „Die Fehlfaltung von Aβ ist also ein sehr präziser prognostischer Plasma-Biomarker“, folgert Klaus Gerwert.
Kombination zweier Biomarker verbessert Prognose weiter
Zusätzlich überprüfte das Team, ob die Kombination zweier verschiedener Messmethoden die Vorhersage des Erkrankungsrisikos weiter verbessern kann. Dazu kombinierten sie die Fehlfaltung aller Aβ-Isoformen mit einem Wert für die Konzentrationsabnahme des Aβ42 im Vergleich zum Aβ40 im Plasma. Die Amsterdamer Arbeitsgruppe maß die Aβ-Konzentrationen mit der neuen Single-molecule-array-Technologie (SIMOA). Dadurch steigerte sich die Testgenauigkeit von einer AUC von 0,94 auf 0,99 (Area under Curve).
„Wir können jetzt mit einem einfachen Bluttest an symptomfreien Personen mit subjektiven Bedenken das Risiko, in Zukunft an klinischem Alzheimer zu erkranken oder eben nicht, sehr präzise vorhersagen“, erklärt Klaus Gerwert. „Ebenso sicher können wir aber auch älteren Menschen eine Entwarnung geben, die nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit haben, in den kommenden sechs Jahren an Alzheimer zu erkranken.“
„Durch das Biomarker-Panel können wir den kompletten Krankheitsverlauf von 14 Jahren, beginnend im symptomfreien Zustand mit der Fehlfaltung von Aβ und der späteren Plaque-Ablagerungen von Aβ42 im Gehirn mit ersten kognitiven Beeinträchtigungen präzise im Blut bestimmen“, ergänzt Julia Stockmann.
Hoffnung auf Behandlung in frühem Stadium
Ein solcher Bluttest, der die beginnende Alzheimer-Demenz schon im symptomlosen Zustand erkennen kann, wäre vor allem dann nützlich, wenn ein Wirkstoff zur Behandlung der Krankheit verfügbar wäre. Im März 2021 wird die US-amerikanische Food and Drug Administration über die Zulassung des Medikaments Aducanumab entscheiden. „Unsere Ergebnisse zeigen eindeutig, dass in den klinischen Studien heutzutage die Alzheimer-Medikamente zu spät gegeben werden“, so Klaus Gerwert. „Kein Wunder, dass die bisherigen Medikamente alle fehlgeschlagen sind.“ Der Bochumer Forscher setzt sich dafür ein, dass der Immuno-Infrarot-Sensor künftig bei der Auswahl der Studienteilnehmer Anwendung findet und damit ein deutlich besseres Therapieansprechen erzielt wird.
Förderung
Die Arbeiten wurden unterstützt vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Forschungszentrums für Proteindiagnostik Prodi und vormals im Rahmen der der Protein Research Unit within Europe. Weitere Förderung kam von der Alzheimer Forschung Initiative (#19077CB), dem Gieskes-Strijbis Fonds, Alzheimer Nederland (NL-17004), dem Stichting VUmc Fonds und Stichting Dioraphte.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Klaus Gerwert
Zentrum für Proteindiagnostik
Ruhr Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 18035
E-Mail: gerwert@rub.de
Originalpublikation:
Julia Stockmann et al.: Amyloid-β misfolding as a plasma biomarker indicates risk for future clinical Alzheimer’s disease in individuals with subjective cognitive decline, in: Alzheimer’s Research and Therapy, 2020, DOI: 10.1186/s13195-020-00738-8
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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