Mit dem Aussterben indigener Sprachen bricht auch Wissen über Heilmittel weg



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09.06.2021 11:23

Mit dem Aussterben indigener Sprachen bricht auch Wissen über Heilmittel weg

Urvölker geben ihr Wissen über Heilpflanzen mündlich weiter. Sterben ihre indigenen Spra-chen aus, gehen auch wertvolle medizinische Kenntnisse verloren. Eine Studie der Univer-sität Zürich schätzt, dass weltweit 75 Prozent der Anwendungen jeweils in nur einer Spra-che bekannt sind.

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Sprache ermöglicht es indigenen Gesellschaften, fast jeden Flecken dieser Erde zu besiedeln. Indigene Gesellschaften beschreiben in ihrer jeweiligen Sprache die sie umgebende biologische Vielfalt. So werden auch Heilpflanzen benannt und als natürliche Apotheke nutzbar gemacht. Das Wissen, welche Pflanzen heilen und welche töten können, wird so von Generation zu Gene-ration weitergegeben.

Heute werden weltweit fast 7’400 verschiedene Sprachen gesprochen. Die meisten davon sind jedoch nicht schriftlich festgehalten und viele werden auch kaum mehr an die nächste Generation weitergegeben. Dies führt gemäss Schätzungen von Linguisten dazu, dass 30 Prozent aller Sprachen bis zum Ende des 21. Jahrhunderts verschwunden sein werden. Indigene Kulturen, die ihr Wissen meist mündlich weitergeben, laufen somit Gefahr, dass ihre medizinischen Kenntnisse ebenfalls aussterben könnten.

Bedrohte Sprachen übermitteln einzigartiges Wissen

In einer neuen Studie analysierten PhD Rodrigo Cámara-Leret und Jordi Bascompte, Professor für Ökologie an der Universität Zürich, wie indigene Heilpflanzen-Kenntnisse mit den jeweiligen Muttersprachen verknüpft sind. Sie erforschten dazu die indigenen Sprachen Nordamerikas, aus dem nordwestlichen Amazonasgebiet und in Neuguinea. Die Forschenden untersuchten 3’597 Heilpflanzenarten und deren 12’495 Anwendungen in Verbindung mit 236 indigenen Sprachen. «Wir fanden heraus, dass über 75 Prozent der Verwendungszwecke von Arzneipflanzen jeweils nur in einem indigenen Volk – und daher nur in einer Sprache – bekannt sind», erklärt Erstautor Cámara-Leret.

Das Forschungsteam wollte weiterhin herausfinden, wie viel von diesem einzigartigen Wissen verloren gehen könnte, sollten entweder die Sprache oder die Pflanzen aussterben. Sie nutzten dazu zum einen den Glottolog-Katalog der Weltsprachen und zum anderen die Rote Liste der International Union for Conservation of Nature IUCN. Das Resultat: In Nordamerika und Amazoni-en werden über 86 Prozent des Wissens über Heilmittel jeweils nur in einer bedrohten indigenen Sprache vermittelt, in Neuguinea sind es 31 Prozent. Im Gegensatz dazu galten weniger als 5 Prozent der Heilpflanzenarten als unmittelbar bedroht.

Internationale Dekade der indigenen Sprachen

Die vorliegende Studie belegt, dass jede indigene Sprache einzigartiges Wissen über medizini-sche Heilpflanzen besitzt und damit auch Wissen über die biologische Vielfalt von einer Generati-on auf die andere weitergibt. Sterben Sprachen aus, geht auch das Wissen über die Wirkung von Heilpflanzen unwiederbringlich verloren, auch wenn die Pflanzen selbst nicht vom Aussterben bedroht sind.

Die Studie bestätigt, wie wichtig die für die nächsten zwei Jahre ausgerufene «Internationale Dekade der indigenen Sprachen» ist. Die Vereinten Nationen möchten damit das weltweite Be-wusstsein für die kritische Situation vieler indigener Sprachen schärfen. «Wir stimmen mit der Visi-on der UN überein. Es sollten mehr Ressourcen für die Erhaltung, Wiederbelebung und Förde-rung bedrohter Sprachen mobilisiert werden», sagt Bascompte. Entscheidend wären, so die For-scher, gross angelegte, partizipative Projekte, um gefährdetes medizinisches Wissen zu doku-mentieren, bevor es zu spät ist.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Kontakt:
Dr. Rodrigo Cámara-Leret
Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften
Tel. +41 44 635 61 65
E-Mail: rodrigo.camaraleret@ieu.uzh.ch


Originalpublikation:

Literatur:
Rodrigo Cámara-Leret & Jordi Bascompte. Language extinction triggers the loss of unique medic-inal knowledge. Proceedings of the National Academy of Sciences USA. June 8, 2021. DOI: 10.1073/pnas.2103683118


Weitere Informationen:

https://www.media.uzh.ch/de/medienmitteilungen/2021/Aussterbende-Sprachen.html


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Medizin, Sprache / Literatur, Umwelt / Ökologie
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW