Neuer Ansatz gegen Nebenwirkungen von Antibiotika



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13.10.2021 17:00

Neuer Ansatz gegen Nebenwirkungen von Antibiotika

Forschende aus Tübingen und Heidelberg analysieren Kollateralschäden, die Antibiotika im Darm verursachen – Gegenmittel könnten nützliche Bakterien besser schützen

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Antibiotika helfen bei der Behandlung bakterieller Infektionen und retten jedes Jahr Millionen von Leben. Sie können aber auch die hilfreichen Mikroben in unserem Darm schädigen, eine der ersten Verteidigungslinien unseres Körpers gegen Krankheitserreger schwächen und die positiven Auswirkungen körpereigener Mikrobiota auf unsere Gesundheit beeinträchtigen. Häufige Nebenwirkungen dieser „Kollateralschäden“ von Antibiotika sind Magen-Darm-Beschwerden und wiederkehrende Clostridioides-difficile-Infektionen, aber auch die Entwicklung von allergischen, metabolischen, im-munologischen oder entzündlichen Krankheiten.

Ein internationales Forschungsteam hat systematisch die Auswirkungen von 144 Antibiotika auf unsere häufigsten Darmbakterien untersucht. Die Arbeitsgruppen um Lisa Maier aus dem Exzellenzcluster „Controlling Microbes to Fight Infections“ (CMFI) der Universität Tübingen und um Nassos Typas am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg, schlagen Strate-gien vor, um die negativen Auswirkungen auf das Darmmikrobiom abzuschwächen. Mit der in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte Studie lassen sich die Auswirkungen von Antibiotika auf Darmbakterien erheblich besser verstehen.

Wenn Antibiotika nützliche Bakterien töten
Der menschliche Darm beherbergt das Darmmikrobiom: eine komplexe Gemeinschaft verschiedener Mikrobenarten sowie vieler Viren. Es ermöglicht uns, Nährstoffe effizienter zu verwerten und hindert krankheitserregende Bakterien daran, sich im Darm anzusiedeln. Wird eine bakterielle Infektion mit Antibiotika behandelt, besteht jedoch die Gefahr, dass das Darmmikrobiom geschädigt wird. „Viele Antibiotika hemmen das Wachstum krankheitserregender Bakterien. Dieses breite Wirkungsspektrum ist bei der Behandlung von Infektionen nützlich, erhöht aber das Risiko, dass auch die nützlichen Bakterien im Darm angegriffen werden“, erklärt Hauptautorin Lisa Maier, CMFI-Nachwuchsgruppenleiterin und Emmy-Noether-Gruppenleiterin.

Dass Antibiotika auch gegen Darmbakterien arbeiten, ist bekannt. Bislang wurden ihre Auswirkungen auf die große Vielfalt von Mikroben in unserem Darm aber nicht systematisch untersucht, vor allem wegen technischer Herausforderungen. „Bisher war unser Wissen über die Auswirkungen verschiedener Antibiotika auf einzelne Mitglieder unserer mikrobiellen Gemeinschaften im Darm lückenhaft. Unsere Studie trägt erheblich zu unserem Verständnis bei, welche Art von Antibiotika welche Arten von Bakterien auf welche Weise beeinflusst”, sagt Nassos Typas, Senior Scientist und Gruppenleiter am EMBL Heidelberg.

144 Antibiotika auf Wirkung überprüft
Aufbauend auf einer früheren Studie mehrerer EMBL-Forschungsgruppen untersuchten die Forschungsteams, wie sich jedes der 144 Antibiotika auf Wachstum und Überleben von bis zu 27 Bakterienstämmen auswirkt, die üblicherweise im Darm vorkommen. Sie bestimmten die Konzentrationen, bei denen sich ein bestimmtes Antibiotikum auf diese Bakterienstämme auswirkt, für mehr als 800 Antibiotika-Stamm-Kombinationen. So konnten sie bestehende Datensätze zu Antibiotika-Spektren in Darmbakterienarten um 75 Prozent erweitern.

Die Experimente zeigen, dass Tetracycline und Makrolide – zwei häufig verwendete Antibiotikafamilien – nicht nur das Wachstum der Bakterien stoppen, sondern auch zu deren Absterben führen. Etwa die Hälfte der getesteten Darmbakterienstämme überlebte die Behandlung mit diesen Antibiotikaklassen nicht. „Wir hatten diesen Effekt nicht erwartet. Bisher ging man davon aus, dass diese Antibiotikaklassen nur das Bakterienwachstum stoppen, aber die Bakterien nicht abtöten”, so Camille Goemans, Postdoktorandin in der Typas-Gruppe und gemeinsam mit Maier Erstautorin.

„Die Experimente zeigen, dass diese Annahme für etwa die Hälfte der von uns untersuchten Darmmikroben nicht zutrifft. Doxycyclin, Erythromycin und Azithromycin beispielsweise, drei häufig ein-gesetzte Antibiotika, töteten mehrere häufig vorkommende Darmbakterienarten ab, während sie andere nur in ihrem Wachstum hemmten.“ Die selektive Abtötung bestimmter Bakterien könnte dazu führen, dass diese Bakterien unbeabsichtigt viel schneller aus dem Darmmikrobiom verschwinden als solche, deren Wachstum nur gehemmt wird, wie die Autoren mit synthetischen Bakteriengemeinschaften zeigten. Dies könnte die starken Veränderungen des Darmmikrobioms erklären, die bei einigen Patienten nach der Antibiotika-Behandlung auftreten.

Zweites Medikament als „Gegenmittel“
Es gibt jedoch eine Möglichkeit, den Schaden zu begrenzen. „In früheren Studien konnten wir nach-weisen, dass Medikamenten-Kombinationen bei verschiedenen Bakterienarten unterschiedlich wirken. Daher haben wir nun untersucht, ob ein zweites Medikament die schädlichen Auswirkungen auf die Darmmikroben verhindern kann, während die Antibiotika gleichzeitig ihre Wirkung gegen Krankheitserreger beibehalten“, erklärt Typas. „Das zusätzliche Medikament könnte als eine Art Gegenmittel eingesetzt werden, das Kollateralschäden von Antibiotika auf Darmbakterien verringert.“

Die Forschenden kombinierten die Antibiotika Erythromycin oder Doxycyclin mit fast 1.200 Arznei-mitteln, um Medikamente zu finden, die zwei häufig vorkommende Darmbakterienarten vor dem Antibiotikum schützen, ohne dessen Wirkung zu beeinträchtigen. Tatsächlich fanden sie mehrere nicht-antibiotische Arzneimittel, die diese Darmbakterien und verwandte Arten retten könnten.

Folgeexperimente zeigten, dass dieser Ansatz auch im Kontext eines natürlichen Mikrobioms funktionieren könnte. Mit Hilfe von Kooperationspartnern ließ sich zeigen, dass die Kombination von Erythromycin mit einem Gegenmittel den Verlust bestimmter Darmbakterienarten aus dem Mäusedarm abschwächte. In ähnlicher Weise schützten die Gegenmittel die menschlichen Darmbakterien vor Erythromycin in komplexen Bakteriengemeinschaften, die aus Stuhlproben gewonnen wurden.

„Unser Ansatz, Antibiotika mit einem schützenden Gegenmittel zu kombinieren, könnte Möglichkeiten eröffnen, die schädlichen Nebenwirkungen von Antibiotika auf unser Darmmikrobiom zu reduzieren“, hält Maier fest. „Kein einzelnes Gegenmittel wird in der Lage sein, alle Bakterien in unserem Darm zu schützen, vor allem, weil sie sich von Mensch zu Mensch so stark unterscheiden. Aber dieses Konzept öffnet die Tür für die Entwicklung neuer personalisierter Strategien, um Darmbakterien zu schützen.“

Weitere Forschung ist erforderlich, um die optimalen Kombinationen, Dosierungen und Rezepturen der Gegenmittel zu ermitteln und mögliche langfristige Auswirkungen auf das Darmmikrobiom aus-zuschließen. In Zukunft könnte der neue Ansatz dazu beitragen, das Darmmikrobiom gesund zu halten und die Nebenwirkungen von Antibiotika bei Patienten zu verringern, ohne die Effizienz von Antibiotika als Lebensretter zu beeinträchtigen.

Beteiligte Forschungsgruppen: Exzellenzcluster „Controlling Microbes to Fight Infections“ (CMFI) der Universität Tübingen; EMBL-Gruppen Typas, Bork, Zeller, Zimmermann und Patil; Ludwig-Maximilians-Universität München; Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin.


Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Lisa Maier
Universität Tübingen
Exzellenzcluster „Controlling Microbes to Fight Infections“ (CMFI)
Telefon +49 (7071) 29-80187
l.maier@uni-tuebingen.de


Originalpublikation:

Maier L., Goemans CV., et al. Unravelling the collateral damage of antibiotics on gut bacteria. Nature, published on 13 October 2021. DOI: 10.1038/s41586-021-03986-2; www.nature.com/articles/ s41586-021-03986-2


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW