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04.10.2024 11:30
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Pharmakologie: Giftiger Krebs aus Maya-Unterwasserhöhlen liefert neue Wirkstoffkandidaten
Tiergifte beeinflussen eine Vielzahl von physiologischen Vorgängen und sind damit von großem Interesse für die Wirkstoffforschung. Eine internationale Studie unter der Leitung von Björn von Reumont von der Goethe-Universität Frankfurt hat nun neuartige Toxine aus dem höhlenbewohnenden Unterwasserkrebs Xibalbanus tulumensis identifiziert, die verschiedene Ionenkanäle hemmen und dadurch vielversprechende pharmakologische Anwendungen eröffnen. Die Art kommt ausschließlich in den Cenoten-Höhlen vor, die einst den Maya heilig waren.
FRANKFURT. Viele Tiere nutzen Gifte zur Selbstverteidigung oder zur Jagd. Dafür greifen Giftbestandteile, sogenannte Toxine, in verschiedene physiologische Prozesse ein. Das macht sie auch interessant für die Entwicklung neuer pharmakologischer Wirkstoffe. Einige Tiergruppen wie die Schlangen, Spinnen, Skorpione und Insekten sind hinsichtlich ihrer Gifte bereits recht gut untersucht. Anders sieht es bei marinen Tiergruppen aus: Hier existieren Daten bisher nur für einzelne Tierarten, so dass diese Gruppe noch großes ungenutztes Potenzial bereithält.
Erst vor wenigen Jahren wurde entdeckt, dass es auch unter den Krebstieren (Crustacea) giftige Vertreter gibt: die Remipeden, die optisch eher an Hundertfüßer erinnern und in marinen Unterwasserhöhlen leben. Ein multidisziplinäres Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Björn von Reumont, der 2014 erstmals ein Giftsystem bei Remipeden nachwies und derzeit als Gastwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt forscht, hat nun eine Gruppe von Toxinen aus dem Remipeden Xibalbanus tulumensis charakterisiert.
Reumont stellte hierfür ein Team zusammen aus Kooperationspartner*innen vom Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin (ITMP) im Rahmen des LOEWE-Zentrums für Translationale Biodiversität (LOEWE TBG) und aus Kollegen*innen von der Universität Leuven, Belgien, sowie aus Köln, Berlin und München, die Teil des Europäischen Venom-Netzwerks (EU COST Action EUVEN) sind.
Der Remipede Xibalbanus tulumensis bewohnt die Cenoten – die Unterwasser-Höhlensysteme auf der mexikanischen Halbinsel Yucatan. Das in einer Giftdrüse gebildete Gift injiziert der Höhlenbewohner gezielt in seine Beutetiere. Es enthält eine Vielzahl von Komponenten, darunter eine neue Art von Peptiden, die nach ihrem Produzenten als Xibalbine bezeichnet werden. Einige dieser Xibalbine enthalten ein charakteristisches Strukturelement, das auch von Toxinen vor allem aus Spinnen bekannt ist: Mehrere Aminosäuren (Cysteine) des Peptids sind so miteinander verbunden, dass eine knotenähnliche Struktur (englisch ‚knot‘) entsteht. Sie verleiht den Peptiden Widerstandsfähigkeit gegen Enzyme, Hitze und extreme pH-Werte. Derartige Knottine wirken oft als Neurotoxine, die mit Ionenkanälen interagieren und daher Beutetiere lähmen können, was auch für einige Xibalbine angenommen wurde.
Die Studie zeigt nun, dass alle, primär von den Doktoranden der Kooperationspartner, getesteten Xibalbin-Peptide – insbesondere Xib1, Xib2 und Xib13 – Kaliumkanäle in Säugetiersystemen wirksam hemmen. „Diese Hemmung ist von großer Bedeutung für die Entwicklung von Wirkstoffen für die Behandlung einer Reihe von neurologischen Krankheiten, einschließlich Epilepsie”, sagt von Reumont. Xib1 und Xib13 zeigen zusätzlich die Fähigkeit, spannungsabhängige Natriumkanäle zu hemmen, wie sie etwa in Nerven- oder Herzmuskelzellen vorkommen. Außerdem können die beiden Peptide in Sinnesnervenzellen (sensorischen Neuronen) höherer Säugetiere zwei in die Signalübertragung involvierte Proteine aktivieren, die Kinasen PKA-II und ERK1/2. Letzteres lässt vermuten, dass sie an der Schmerzsensibilisierung beteiligt sind, was neue Ansätze in der Schmerztherapie eröffnet.
Die Bioaktivität der Xibalbine verdeutlicht das ungenutzte Potenzial der marinen Artenvielfalt. Die Herstellung von Arzneimitteln aus Tiergiften ist jedoch ein komplexer und zeitaufwändiger Prozess. „Geeignete Kandidaten zu finden und ihre Wirkung umfassend zu charakterisieren, sodass damit die Basis für sichere und wirksame Arzneimittel gelegt wird, ist heute nur noch in einem großen interdisziplinären Team wie in unserer Studie möglich”, so von Reumont.
Hinzu kommt, dass im Falle der Remipeden die Zeit drängt. Ihr Lebensraum ist durch den Bau des Intercity-Eisenbahnnetzes Tren Maya quer durch die Halbinsel Yucatan massiv bedroht. „Die Cenoten sind ein hochsensibles Ökosystem“, erklärt Studienleiter von Reumont, der als erfahrener Höhlentaucher während mehrerer Höhlentauchexpeditionen Remipeden in Yucatan gesammelt hat. „Unsere Studie verdeutlicht, wie wichtig der Schutz der biologischen Vielfalt ist – nicht nur wegen ihrer ökologischen Bedeutung, sondern auch wegen potenziellen Inhaltsstoffen, die für uns Menschen von entscheidender Bedeutung sein können.“
Bilder zum Download:
https://www.uni-frankfurt.de/158764609
Bildtexte:
(Entry)
Eingang zu einer Cenote: Den Maya waren die Cenoten einst heilig, galten die Karsthöhlen doch als Eingang zur göttlichen Unterwelt. Foto: Björn M. von Reumont
(Diving)
Tauchgang in den Cenoten: Die Forschenden sammeln den Unterwasserkrebs Xibalbanus tulumensis, der nur hier vorkommt. Foto: Björn M. von Reumont
(Xibalbanus)
Giftiger Unterwasserkrebs: Xibalbanus tulumensis enthält Toxine, die sich für die Entwicklung von Wirkstoffen gegen neurologische Erkrankungen eignen. Foto: Björn M. von Reumont
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. rer nat. habil. Björn M. von Reumont
Gastwissenschaftler im Arbeitskreis für Angewandte Bioinformatik/Prof. Ingo Ebersberger
Goethe-Universität Frankfurt
Tel. +49(0)151-61997924
bmvr@reumont.net
http://www.venom-evolution.de
Originalpublikation:
Ernesto Lopes Pinheiro-Junior, Ehsan Alirahimi, Steve Peigneur, Jörg Isensee, Susanne Schiffmann, Pelin Erkoc, Robert Fürst, Andreas Vilcinskas, Tobias Sennoner, Ivan Koludarov, Benjamin-Florian Hempel, Jan Tytgat, Tim Hucho, Björn M von Reumont: Diversely evolved xibalbin variants from remipede venom inhibit potassium channels and activate PKA-II and Erk1/2 signaling. BMC Biology 22, 164 (2024) https://doi.org/10.1186/s12915-024-01955-5
Bilder
Tauchgang in den Cenoten: Die Forschenden sammeln den Unterwasserkrebs Xibalbanus tulumensis, der nu …
Björn M. von Reumont
Goethe-Universität Frankfurt
Giftiger Unterwasserkrebs: Xibalbanus tulumensis enthält Toxine, die sich für die Entwicklung von Wi …
Björn M. von Reumont
Goethe-Universität Frankfurt
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Chemie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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