18.02.2021 08:43
Tumor-Physik: Krebszellen verflüssigen sich und quetschen sich durchs Gewebe
Wissenschaftlern der Universität Leipzig ist in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Deutschland und den USA ein Durchbruch in der Forschung zur Verbreitung von Krebszellen gelungen. Die Biophysiker um Prof. Dr. Josef Alfons Käs, Steffen Grosser und Jürgen Lippoldt konnten in Experimenten erstmals nachweisen, wie sich Zellen verformen, um sich in dichten Tumorgeweben zu bewegen und sich zwischen ihren Nachbarzellen durchzuquetschen. Die Forscher stellten fest, dass bewegliche Zellen gemeinsam das Tumorgewebe verflüssigen.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Käs hat das Forschungsprojekt in Kooperation mit Prof. Dr. Lisa Manning von der Universität Syracuse (USA) und Prof. Dr. Bahriye Aktas vom Universitätsklinikum Leipzig geleitet. Sie haben ihre Ergebnisse jetzt in „Physical Review X“ veröffentlicht, einem führenden Fachjournal für Physik, das vor allem bahnbrechende Forschungsergebnisse publiziert.
„Diese ersten Beobachtungen eines Phasenübergangs bei menschlichen Tumoren verändern unsere grundlegenden Konzepte der Tumorprogression und könnten die Krebsdiagnose und -therapie verbessern“, sagt Käs, der sich seit Jahren mit den physikalischen Eigenschaften von Krebszellen beschäftigt. Die Forschungen hätten gezeigt, dass menschliche Tumoren feste und flüssige Zellcluster enthalten, was einen Durchbruch beim Verständnis der Tumormechanik darstellt. Die Resultate bildeten die Grundlage für das erste Verfahren, mit dem sich metastasierende Krebszellen bereits im Tumor nachweisen lassen.
In Tumorproben von Patienten der Uniklinik fanden die Wissenschaftler Regionen mit beweglichen Zellen sowie stabile, feststoffartige Regionen ohne Zellbewegung. Aus physikalischer Sicht sollten sich Zellen nicht in der dichten Tumormasse bewegen können – Tumore sind so dicht mit Zellen überfüllt, dass in jedem klassischen Material die Bewegung angehalten werden würde.
Die Forscher entwickelten daher einen neuen Ansatz in der Lebendmikroskopie von Tumoren, indem sie menschliche Tumorproben direkt nach der Operation fluoreszent färbten und so Zellbewegungen live beobachten konnten. So fanden sie heraus, dass diese Zellbewegung entgegen allen bisherigen Erkenntnissen doch stattfindet und mit starken Kerndeformationen verbunden ist. Sie beobachteten, wie sich Zellen und ihre Kerne buchstäblich durch das Gewebe quetschen, indem sie sich stark deformieren.
„Zellen in biologischen Geweben verhalten sich ähnlich wie Menschen in einer Bar. Bei geringen Dichten können sie sich frei bewegen. Wenn es jedoch sehr voll ist, wird jede Bewegung schwierig. Aber selbst in einer überfüllten Bar können Sie sich immer noch durchdrücken, wenn Sie sich seitwärts drehen. Genau diesen Effekt sehen wir in Tumorgeweben“, erklärt Käs. Die Forscher glauben, dass dieser Flüssigkeitsübergang erklärt, wie sich Zellen in einem Tumor bewegen und vermehren können, was schließlich zu Metastasen führt. Die flüssigen Gewebe waren mit länglichen, deformierten Zellen und Kernen angereichert. Statische Bilder von länglichen Zell- und Kernformen könnten somit als Fingerabdruck für die metastatische Aggressivität eines Tumors dienen.
„Dies sind spektakuläre Ergebnisse aus dem Bereich der Krebs-Physik. Wir müssen jetzt untersuchen, ob die flüssigen Regionen die Tumoraggressivität vorhersagen können. Hier haben wir einen Krebs-Marker gefunden, der aktive, bewegliche Regionen anzeigt und der auf einem einfachen physikalischen Mechanismus beruht “, sagt Steffen Grosser. Derzeit leitet Professor Käs eine klinische Studie ein, um das Potenzial der Zell- und Kernform als neuen Tumormarker zu untersuchen, mit dem Patienten viel gezielter als bisher untersucht und behandelt werden könnten.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Josef A. Käs
Peter-Debye-Institut für Physik der weichen Materie der Universität Leipzig
Telefon: +49 341 97-32470
E-Mail: jkaes@physik.uni-leipzig.de
Steffen Grosser
Peter-Debye-Institut für Physik der weichen Materie der Universität Leipzig
Telefon: +49 341 97-32562
E-Mail: steffen.grosser@uni-leipzig.de
Originalpublikation:
Originaltitel der Veröffentlichung in Physical Review X:
Cell and Nucleus Shape as an Indicator of Tissue Fluidity in Carcinoma
DOI: https://doi.org/10.1103/PhysRevX.11.011033
https://journals.aps.org/prx/abstract/10.1103/PhysRevX.11.011033
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin, Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch