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08.05.2025 11:35
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‚Wissenschaft‘, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Ultrakurzzeit-Therapie für posttraumatisches Belastungssyndrom nach Intensivstation
Wie können Hausärzte Menschen helfen, die nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt haben? Mit einer Gesprächstherapie namens „Narrative Expositionstherapie“, die ein Team um Prof. Dr. Jochen Gensichen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am LMU Klinikum, „fit“ gemacht hat für die Anwendung in der Hausarztpraxis. In einer jetzt im Fachblatt „British Medical Journal“ veröffentlichten Studie zeigten sich deutliche positive Effekte.
Ob nach einer heftigen Lungenentzündung, einem schweren Unfall oder nach einem Herzinfarkt: Dem Tod in der Intensivstation von der Schippe zu springen – das klingt, bei allem Unglück, nach einer Geschichte der Rettung. Aber, sagt Prof. Dr. Jochen Gensichen, Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am LMU Klinikum: „Diese Menschen haben die stärkste Medizin mit viel körperlichem und psychischem Stress erlebt, haben dank der Intensivmedizin überlebt – und sind trotzdem oft unsicher und kommen im Alltag nicht wieder richtig in Tritt.“
Schauen die Ärzte genauer hin, dann haben etwa ein Fünftel der Patienten in den ersten zwölf Monaten nach der Entlassung aus einer Intensivstation mehr oder minder starke Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung: Flashbacks, Schlaflosigkeit und Albträume. Und damit werden sie nach drei, vier Monaten vorstellig beim medizinischen Ansprechpartner ihres Vertrauens: dem Hausarzt. Oder aber umgekehrt: Der Allgemeinmediziner erkennt den Zustand des Patienten und spricht ihn darauf an.
Stellt sich eine posttraumatische Belastungsstörung nach Intensivstation heraus, folgt die Frage: wie therapeutisch vorgehen? Psychotraumatologen sind rar gesät – und monatelang ausgebucht.
Deshalb hat das Münchner Team eine simple und kompakte Intervention entwickelt, maßgeschneidert für die knapp bemessene Zeit von Hausärzten. Sie beruht auf der sogenannten narrativen Expositionstherapie (NET). Die Idee: eine Art Unordnung des Gedächtnisses wieder zu sortieren. Denn im Gehirn der Betroffenen sind die Geschehnisse in der Intensivstation und die damals auftretenden Gefühle irgendwie chaotisch abgespeichert, so dass bei ähnlichen Erinnerungen zu damals der Eindruck entsteht, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Mit der NET sollen durch eine bestimmte Gesprächstechnik die Erinnerungen sozusagen entdramatisiert werden, so dass sie einfach nur angemessene Erinnerungen an die Zeit von damals sind.
„Wir haben die kürzeste Variante der Narrativen Expositionstherapie überhaupt entwickelt“, erklärt Gensichen. Im Schnitt dauert jede Sitzung 30 bis 45 Minuten. In einer kontrollierten Studie erhielten 160 Betroffene die neue Intervention (in drei Einzelsitzungen) und 159 die Standardbetreuung durch ihren Hausarzt. In den Sitzungen rekonstruierten Hausarzt und Patient die starken, verstörenden Erlebnisse und sortierten diese neu. Zusätzlich erfolgten sieben wöchentliche Telefonvisiten durch eine medizinische Fachangestellte der Hausarztpraxis.
Resultat: Die Ultrakurzzeit-NET hat Zahl und Intensität der Flashbacks reduziert und das Denken der Patienten so verändert, dass sie nicht mehr die Schuld für die Erkrankung bei sich selbst suchen. Vermeidungsverhalten, also das Aus-dem-Weg-gehen von bedrohlichen Situationen, und die Übererregbarkeit wurden weniger beeinflusst, dafür aber die Stimmung der Patienten. Nach einem Jahr waren die Effekte immer noch nachweisbar, schwächten sich allerdings ab. „Insgesamt ein beachtliches Ergebnis für solch eine kurze Intervention“, findet Jochen Gensichen, der das Verfahren für „absolut praxistauglich“ hält.
Zum einen ist es für einen Hausarzt, der ja sehr viel Vorwissen hat, leicht und schnell zu lernen. Zum anderen lässt es sich in den Praxisalltag einbauen. Die an der Studie teilnehmenden Ärzte waren mit den NET hochzufrieden, gleichermaßen die Patienten. Jochen Gensichen: „Man kann auch das Wissen für die nötige Diagnostik relativ fokussiert vermitteln, um die Patienten gezielt zu selektieren und auch diejenigen zu erkennen, für die diese Behandlung eventuell nicht ausreichen würde, für die man also eine spezialisierte Behandlung brauchen würde.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Jochen Gensichen
Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin
LMU Klinikum München
Campus Innenstadt
Tel: +49 89 4400-53779
E-Mail: jochen.gensichen@med.uni-muenchen.de
Originalpublikation:
Effects of a general practitioner-led brief narrative exposure intervention on symptoms of post-traumatic stress disorder after intensive care (PICTURE): multicentre, observer blind, randomised controlled trial
BMJ 2025; 389 doi: https://doi.org/10.1136/bmj-2024-082092
Weitere Informationen:
https://www.lmu-klinikum.de/aktuelles/pressemitteilungen/ultrakurzzeit-therapie-…
Bilder
Symbolbild Intensivstation
Manuel Faba
AdobeStock
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
