Menschliche Mini-Organe in Kunststoffchips ermöglichen die Testung neuartiger Therapieansätze in der Augenheilkunde



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23.09.2021 10:28

Menschliche Mini-Organe in Kunststoffchips ermöglichen die Testung neuartiger Therapieansätze in der Augenheilkunde

Gentherapien für Netzhauterkrankungen können künftig mit Retina-on-Chip-Systemen getestet werden

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Plötzlich gesund

Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.

Hier geht es weiter …

Genetische Augenerkrankungen haben meist eine Störung der Netzhaut zur Folge und führen in vielen Fällen zu erheblichen Einschränkungen der Sehfähigkeit bis hin zur Erblindung. Forschende des NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts in Reutlingen, der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen und Boehringer Ingelheim veröffentlichten kürzlich Ergebnisse aus einer Studie zur Testung von Träger-Viren für Gentherapien in einem menschlichen Retina-on-Chip-System im renommierten Journal „Stem Cell Reports“. Mit diesem neuartigen System lassen sich künftige Gentherapien für Netzhauterkrankungen besser entwickeln.

Virale Gentherapien zur Behandlung genetischer Augenerkrankungen

Bei der Behandlung von genetischen Augenerkrankungen wie bspw. Retinitis Pigmentosa, einer krankhaften Veränderung der Netzhaut (Retina), haben Gentherapien ein großes Potenzial für die Augenheilkunde. Grundsätzlich besteht die Netzhaut aus einem komplexen, aber dennoch geordneten Netzwerk verschiedenster Zellen, darunter die lichtempfindlichen Sinneszellen, auch Photorezeptoren genannt, die der Wahrnehmung von Licht dienen. Im Falle einiger genetischer Augenerkrankung sind diese Photorezeptoren in ihrer Funktion gestört. Eine virale Gentherapie kann Abhilfe schaffen. Die speziell hergestellten therapeutischen Viren werden bei der Behandlung mit einer feinen Nadel ins Auge injiziert. Die injizierten Viren erzeugen allerdings keine Erkrankung, sondern transportieren genetisches Material in die Zellen des Auges. Die Funktionsweise ist ähnlich der durch die COVID 19-Pandemie bekannt gewordenen mRNA-Impfstoffe – das genetische Material beschreibt einen Bauplan, der die Zellen am Injektionsort dazu bringt, ein bestimmtes Protein zu produzieren, das bei der jeweiligen Krankheit im Auge fehlt. Auf diese Weise kann die fehlende Funktion des Proteins im Patienten bzw. Patientin wiederhergestellt werden.
Um die Viren zu den krankhaften Zellen zu transportieren, stehen aktuell zwei Behandlungsmethoden zur Verfügung: die sogenannte intravitreale Injektion, bei der die Viren in den Glaskörper des Auges injiziert werden und die subretinale Injektion, bei der die Viren direkt unter die äußerste Grenzschicht der Netzhaut gespritzt werden. Die Entwicklung neuer therapeutischer Viren ist nicht zuletzt auch deshalb langwierig und kostspielig, weil es an geeigneten nicht-klinischen Modellen mangelt, die eine Vorhersagekraft für das menschliche Auge haben.

„Die Kombination der Organ-on-Chip- mit der Organoid-Technologie ermöglicht für die Wirksamkeitsuntersuchung von Gentherapien einen wichtigen Schritt in Richtung klinisch-relevanter In-vitro-Studien“, so Prof. Dr. Peter Loskill, Professor für Organ-on-Chip Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen und Gruppenleiter am NMI. Loskill entwickelt mit seinem Team kleine mikrofluidische Plattformen, die es erlauben, lebende Substrukturen von Organen in eine kontrollierte Mikroumgebung zu integrieren und so das menschliche Organ außerhalb des menschlichen Körpers nachzubilden. Da diese sogenannten Chips die natürliche, physiologische Mikroumgebung der Zellen im Gewebe nachbilden, verhalten sich die darin integrierten Zellen und Gewebe so als wären sie noch im menschlichen Körper und reagieren auf einen Reiz oder ein Arzneimittel.
Zur „künstlichen“ Nachbildung der menschlichen Netzhaut stellte das Team von Prof. Dr. Liebau an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen aus pluripotenten Stammzellen, die sich in alle Zelltypen des Körpers entwickeln können – ein Netzhaut-Pigmentepithel und Netzhaut-Organoide her. Diese Organoide sind organähnliche Zellzusammenlagerungen und bestehen aus einer Vielzahl verschiedener Zelltypen. Durch die Kombination der mikrofluidischen Organ-on-Chip-Plattformen mit der Organoid-Technologie gelang es den Forschenden, die Zellen des Netzhaut-Organoids mit Viren zu infizieren und dort ein grün fluoreszierendes Protein zu produzieren. Der eingesetzte Retina-Chip wurde so konzipiert, dass die therapeutischen Viren analog zur subretinalen Injektion verabreicht werden konnten. Darüber hinaus ermöglichte der Aufbau die Langzeit-Beobachtung der lebenden Zellen und die Quantifizierung der Fluoreszenz, die für die Wirksamkeitsuntersuchung einen ausschlaggebenden Parameter darstellt. Somit zeigen die veröffentlichen Daten das Potenzial von Stammzell-basierten Organ-on-Chip-Modellen als nächste Generation von Screening-Plattformen für zukünftige gentherapeutische Studien.

Über das NMI

Das NMI Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut in Reutlingen ist eine außeruniversitäre Forschungseinrichtung und betreibt anwendungsorientierte Forschung an der Schnittstelle von Bio- und Materialwissenschaften. Es verfügt über ein einmaliges, interdisziplinäres Kompetenzspektrum für F&E- sowie Dienstleistungsangebote für regional und international tätige Unternehmen. Dabei richtet sich das Institut gleichermaßen an die Gesundheitswirtschaft sowie Industriebranchen mit werkstofftechnischen und qualitätsorientierten Fragestellungen wie Fahrzeug-, Maschinen- und Werkzeugbau.

Das Forschungsinstitut gliedert sich in drei Geschäftsbereiche, die durch ein gemeinsames Leitbild miteinander verbunden sind: Die Suche nach technischen Lösungen erfolgt stets nach höchsten wissenschaftlichen Standards. Im Geschäftsfeld Pharma und Biotech unterstützt das NMI die Entwicklung neuer Medikamente mit biochemischen, molekular- und zellbiologischen Methoden. Der Bereich Biomedizin und Materialwissenschaften erforscht und entwickelt Zukunftstechnologien wie die personalisierte Medizin und Mikromedizin für neue diagnostische und therapeutische Ansätze. Im Fokus des Dienstleistungsangebotes steht für Kunden die Strukturierung und Funktionalisierung von Werkstoffen und deren Oberflächen. Im Geschäftsfeld Analytik und Elektronenmikroskopie werden analytische Fragestellungen beantwortet.

Über die Landesgrenzen hinaus ist das NMI für sein Inkubatorkonzept für Existenzgründer mit bio- und materialwissenschaftlichem Hintergrund bekannt.
www.nmi.de

Das NMI Naturwissenschaftliche und Medizinische Institut in Reutlingen wird vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus des Landes Baden-Württemberg unterstützt und ist Mitglied der Innovationsallianz Baden-Württemberg, einem Zusammenschluss von 12 außeruniversitären und wirtschaftsnahen Forschungsinstituten.
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Pressekontakte

Dr. Pauline Jeckel
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
NMI Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut
an der Universität Tübingen
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E-Mail: presse@nmi.de

Steven Pohl
Referent für interne und externe Kommunikation
Universitätsklinikum Tübingen
Stabsstelle Kommunikation und Medien
Hoppe-Seyler-Straße 6, 72076 Tübingen
Tel.: +49 7071 29 88494
steven.patrick.pohl@med.uni-tuebingen.de


Originalpublikation:

DOI:https://doi.org/10.1016/j.stemcr.2021.08.008


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
Biologie, Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch


Quelle: IDW