07.10.2020 08:55
COVID-19: „In der Krise zu Dr. Google“
Eine Vorerkrankung der Lunge gilt nach bisheriger klinischer Erfahrung als Risikofaktor für einen schweren COVID-19 Infektionsverlauf. Trotzdem fanden sich während des Lockdowns kaum Menschen mit chronischen Lungenerkrankungen unter den hospitalisierten COVID-19 PatientInnen an der Uniklinik Innsbruck. Ein Team von LungenspezialistInnen der Medizinischen Universität Innsbruck hat dieses Phänomen genauer analysiert und dabei via Internet recherchiert.
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Innsbruck, am 07.10.2020: Zeitgleich mit dem Ausbruch von COVID-19 in Österreich und seinem ersten großen Hotspot in Tirol und dem damit verbundenen Lockdown von 18. März bis 7. April 2020 verzeichneten die ÄrztInnen an der Univ.-Klinik für Innere Medizin II (Direktor: Günter Weiss) der Medizinischen Universität Innsbruck einen drastischen Rückgang von Krankenhausaufenthalten aufgrund von COPD (Chronisch obstruktive Lungenerkrankung) und Asthma. „In erster Linie beobachteten wir im Vergleich zu Vorjahren einen markanten Rückgang der Krankenhausaufenthalte aufgrund von klassischen Lungenentzündungen, während die Rate an COVID-19-assoziierten Krankenhausaufenthalten dramatisch angestiegen ist. Auch die stationären Aufenthalte aufgrund von Influenza waren in diesem Zeitraum stark minimiert“, berichten die Lungenspezialisten Alex Pizzini und Ivan Tancevski.
Ratsuche im Internet
Gemeinsam mit Sabina Sahanic, Anna Böhm und weiteren KollegInnen an der Universitätsklinik Innsbruck stellten Pizzini und Tancevski die Hypothese auf, dass PatientInnen mit Lungenerkrankungen das Krankenhaus bzw. Arztpraxen während des Lockdowns bewusst mieden und für Informationen zu Risiken, Therapien und akuten Problemen das Internet zu Rate zogen. Um das gesundheitsbezogene Verhalten dieser Personen zu recherchieren, untersuchte das Team mithilfe der Analyse-Applikation Google Trends die Frequenz der globalen Suchanfragen nach COVID-19 Risikofaktoren wie Asthma, COPD, Bluthochdruck oder Diabetes. Die Ergebnisse der Datenanalyse wurden soeben im renommierten European Respiratory Journal veröffentlicht.
Um die Analyse nicht zu verzerren, beschränkten sich die ForscherInnen in ihrer Internetsuche hauptsächlich auf Industrienationen, in denen rund 80 Prozent der Bevölkerung das Internet nutzen, sowie auf Länder, in welchen ähnliche Lockdown Maßnahmen wie in Österreich umgesetzt wurden. „Bei der Abfrage nach den Themen ‚COPD‘ und ‚Asthma‘ beobachteten wir einen signifikanten Anstieg der Abfragen von Ende Februar bis Anfang April 2020 im Vergleich zu den Vorjahren“, beschreiben Erstautorinnen Sahanic und Böhm eine zentrale Erkenntnis.
Zwar wurden die Themen „ACE-Hemmer“ und „Bluthochdruck“ bzw. deren Zusammenhang mit schweren COVID-19 Verläufen in den Medien viel häufiger diskutiert als der Risikogehalt von Atemwegserkrankungen, trotzdem ergab die Analyse der Innsbrucker ÄrztInnen für die Begriffe „Asthma“ und Asthma-assoziierte Medikamente das höchste Suchvolumen im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus. „Daraus schließen wir, dass die sozialen Distanzierungs- und Schutzmaßnahmen zusammen mit Selbstmanagement-Empfehlungen im Internet möglicherweise die Krankenhauseintrittsrate bei Patientinnen und Patienten mit Lungenerkrankungen gesenkt haben“, resümiert das Team um Tancevski.
Pandemie zeigt Stellenwert digitaler Gesundheitsberatung
Von COPD sind weltweit rund 294 Millionen Menschen betroffen, über drei Millionen sterben pro Jahr daran. Etwa 268 Millionen Menschen leiden weltweit an Asthma, was zu einer enormen Belastung des Gesundheitssystems führt. Mit dem Ausbruch der COVID-19 Pandemie hat die „Globale Initiative für chronisch obstruktive Lungenerkrankung“ (GOLD) ihr Hauptaugenmerk auf Empfehlungen zur regelmäßigen Anwendung der „Bronchodilatatoren-Erhaltungstherapie“ (dabei wird der Tonus der Bronchialmuskulatur gesenkt und eine Weitung der Bronchien bewirkt) gerichtet; auch die Richtlinien der Globalen Initiative für Asthma (GINA) weisen 2020 ausdrücklich darauf hin, dass die Inhalationstherapie, insbesondere die Erhaltungstherapie mit inhalativen Kortikosteroiden (ICS) während der Pandemie nicht unterbrochen werden soll.
„Auch wenn die persönliche Versorgung und Behandlung nicht ersetzt werden können, sollte eine weitere Verbesserung der digitalen Gesundheitsberatung für PatientInnen mit Asthma und COPD unbedingt forciert werden“, so die Forderung der Innsbrucker ÄrztInnen.
Originalpublikation:
Assessing self-medication for obstructive airway disease during COVID-19 using Google Trends.
https://doi.org/10.1183/13993003.02851-2020
Weitere Informationen:
https://www.i-med.ac.at/pr/presse/2020/55.html [Pressebild zum Herunterladen]
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse
Deutsch