Die Arbeit von Geheimdiensten als soziale Tätigkeit? Geheimdienstwissenschaft durch soziologische Ansätze neu verstehen



Teilen: 

18.11.2022 13:56

Die Arbeit von Geheimdiensten als soziale Tätigkeit? Geheimdienstwissenschaft durch soziologische Ansätze neu verstehen

Inwiefern prägen intern produziertes Wissen und bürokratische Verfahren die geheimdienstliche Arbeit und ihre transnationale Zusammenarbeit? Was haben soziale Beziehungen und transnationale Wissenszirkulation mit der nationalen Sicherheit zu tun?

Prof. Dr. Sophia Hoffmann, Ali Dogan und Noura Chalati vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin erklären anhand von drei soziologischen Konzepten in ihrem Open Access Artikel “Rethinking intelligence practices and processes: three sociological concepts for the study of intelligence” warum die geheimdienstliche Arbeit eine zutiefst soziale Tätigkeit ist. (s.u.)
Die Forschenden stehen für Interviews zur Verfügung.

Hoffmann, Dogan und Chalati untersuchen in ihrem Artikel “Rethinking intelligence practices and processes: three sociological concepts for the study of intelligence”, wie soziologische Ansätze die internationalen Beziehungen der Geheimdienste, jenseits des methodologischen Rahmens des Nationalismus, erklären können. Denn in den letzten Monaten ist Kritik lauter geworden, unter anderem von dem Geheimdienstwissenschaftler Pepijn Tuinier, dass die Geheimdienstforschung weiterhin unter neorealistischen Annahmen leidet und nicht dazu in der Lage ist, die Tiefe und Breite der Beziehungen zwischen verschiedenen Geheimdiensten hinreichend zu erfassen. Soziologische Ansätze hinterfragen Praktiken von Anfang an und entmystifizieren die „geheimen“ Praktiken der Geheimdienste. Denn im Grunde handelt es sich bei ihrer Arbeit auch um eine Verwaltungstätigkeit, wie bei jeder anderen Behörde auch. Dennoch scheinen Mitarbeiter*innen eines Geheimdienstes einer Art mystischen eigenen Clubs anzugehören. Auch die Annahme, dass Geheimdienste verschiedener Nationen sich gegenseitig misstrauen und nur als letzte Option miteinander kommunizieren, beherrscht das allgemeine Wissen über diese Institutionen. Aber die Zusammenarbeit verschiedener Geheimdienste wird von einer Reihe komplexer Faktoren bestimmt, wie die Überzeugungen der Mitarbeiter*innen, dem organisatorischen Aufbau und den Mikropraktiken innerhalb der Behörde. Hoffmann, Chalati und Dogan zeigen auf: dieses Innenleben der Geheimdienste kann durch soziologische Ansätze analysiert werden. Sie entschieden sich, anhand von drei einflussreichen soziologischen Konzepten auf die Kritik an Geheimdienstforschung einzugehen. Die Konzepte „epistemische Gemeinschaften”, „transnationale Felder” und „Wissenszirkulation” werden in dem Artikel ausführlich erörtert und anhand empirischer Beispiele über deutsch-arabische Geheimdienstbeziehungen während des Kalten Krieges untermauert.

In dem Artikel werden zunächst soziologische Ansätze, die in der Geheimdienstforschung seit den 1990er Jahren immer wieder sporadisch auftauchen und in den letzten Jahren immer mehr an Zugkraft gewinnen, aufgezeigt. Laut den ZMO-Forschenden gibt es seit mindestens 2019 erkennbare Bemühungen um die Etablierung einer “soziologischen Schule” der Geheimdienstforschung. Daraufhin analysieren Hoffmann, Dogan und Chalati, welche empirischen Materialien die drei genannten Konzepte besonders gut erfassen können, welche Faktoren sie in der Geheimdienstforschung hervorheben und was sie uns aufzeigen, was es zu hinterfragen gilt. Beginnend bei dem Konzept „epistemische Gemeinschaften” wird erklärt, wie professionelles Wissen, also Epistemologie, der Geheimdienste empirisch verglichen wird. Es entstehen sogenannte epistemische Gemeinschaften, die gleiche oder ähnliche Werte und Normen teilen und mit den gleichen professionellen Wissenssystemen arbeiten. So lässt sich beispielweise die Zusammenarbeit westdeutscher und irakischer Geheimdienste erklären: Beide Geheimdienste wiesen vergleichbare Sicherheitsüberprüfungen und Einstellungspraktiken auf und die Rekrutierung neuer Mitar-beiter*innen erfolgte somit auf einem ähnlichen Verständnis. Obwohl es sich bei Westdeutschland um eine Demokratie handelte und Iraq eine totalitäre Regierungsform aufwies, war eine Zusammenarbeit zwischen den sonst unterschiedlichen Geheimdiensten möglich. Das Konzept der „Feldtheorie” widmet sich Praktiken und Einsätzen, die von Geheimdienstler*innen in verschiedenen Ländern geteilt werden, das heißt dem Habitus. Es wird auch untersucht, welche Kämpfe innerhalb des Feldes ausgetragen werden, wie beispielsweise bürokratische Machtkämpfe. Um sich anzuschauen, welche Praktiken für Mitarbeiter*innen eines Geheimdienstes charakteristisch sind und wie sie sich diese aneignen, kann auf Interviews, Memoiren, Biografien oder Archivmaterial, die Interaktionen und Verhaltensmuster während Sitzungen und Delegationsbesuchen und alltägliche Praktiken wie das Aufzeichnen, Ablegen und Verarbeiten von Informationen zurückgegriffen werden. Mit dem letzten Konzept der „Wissenszirkulation” kann hinterfragt werden, auf welchem Wissen strategische Entscheidungen von Geheimdiensten basieren. Wie entsteht beispielsweise die Vorstellung von nationaler Sicherheit und Bedrohung? Welches zir-kulierende Wissen beeinflusst die Behörde? Dabei berücksichtigt das Konzept auch institutionelles Wissen. „Wissenszirkulation“ wird von Hoffmann als eine Zirkulation auf mehreren Ebenen verstanden: Verschiedene Arten der Zirkulation (Rezeption, Austausch, Verhandlung) und verschiedene Analyseebenen (Staat, Institution, Individuum).

Prof. Dr. Sophia Hoffmann ist seit 2017 Leiterin der Nachwuchsforschungsgruppe “Learning Intelligence: The Exchange of Secret Service Knowledge between Germany and the Arab Middle East 1960–2010” am ZMO und hält seit 2021 die Professur für Internationale Politik und Konfliktforschung an der Universität Erfurt inne. Sie promovierte 2012 an der SOAS University of London. 2016 erschien ihre Monografie „Iraqi Migrants in Syria: The Crisis before the Storm” (Syracuse University Press). Seit 2019 sind Ali Dogan und Noura Chalati wissenschaftliche Mitarbeiter*innen am ZMO. Dogan, Chalati und Hoffmann bilden gemeinsam die “Learning Intelligence“ – Forschungsgruppe. Die Politikwissenschaftlerin Noura Chalati ist Promotionsstudentin an der Freien Universität Berlin (FU). Ihre Doktorarbeit untersucht die geheimdienstlichen Beziehungen zwischen der DDR und Syrien während des Kalten Krieges. Ali Dogan promoviert ebenfalls am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und schreibt seine Dissertation zur Arbeit des Bundesnachrichtendienstes und der irakischen Nachrichtendienste von 1969-1990 . Beide hielten gemeinsam im Sommersemester 2022 an der FU Berlin ein politikwissenschaftliches, einführende Seminar zur Geheimdienstforschung mit Fokus auf den Nahen Osten.

Interviewanfragen senden Sie bitte an Presse(at)zmo.de


Originalpublikation:

Open Access: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/02684527.2022.2113679


Weitere Informationen:

http://www.zmo.de/personen/dr-sophia-hoffmann Sophia Hoffmann
http://www.zmo.de/personen/noura-chalati Noura Chalati
http://www.zmo.de/personen/ali-dogan Ali Dogan


Bilder

Learning Intelligence: The Exchange of Secret Service Knowledge between Germany and the Arab Middle East 1960–2010" @LearnIntelZMO

Learning Intelligence: The Exchange of Secret Service Knowledge between Germany and the Arab Middle

istock


Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik, Psychologie
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch


 

Quelle: IDW