Einzigartige Leistung: Radulfus fortschrittliche Handschriften (12. Jh.)

Moral und Ethik im 12. Jahrhundert? Viele Laien haben bei diesem Thema eher mittelalterlich-düstere Assoziationen. Aber falsch: Es gab seinerzeit durchaus Ideen, die auch aus heutiger Sicht ganz modern anmuten.

Am Ende des 12. Jahrhunderts schrieb der Theologe Radulfus Ardens sein Werk „Speculum universale“ (Universalspiegel). „Es handelt sich dabei um eine der ersten systematischen Gesamtdarstellungen von Moral und Ethik überhaupt und um die umfangreichste im 12. Jahrhundert“, sagt Professor Stephan Ernst von der  Universität Würzburg.

Obwohl das Werk bedeutsam ist, gibt es bislang keine gedruckte Ausgabe – es liegt nur in mittelalterlichen Handschriften vor, die auf mehrere Bibliotheken verteilt und dadurch ausschließlich für Spezialisten zugänglich sind. Professor Ernst will das ändern: An seinem Lehrstuhl wird das „Speculum“ seit 2005 textkritisch ediert: „Wir leisten damit einen Beitrag zu den Grundlagen, auf denen sich die Geschichte der theologischen und philosophischen Ethik des Mittelalters weiter erforschen lässt.“

Einzigartige Leistungen des Autors

Was ist das Besondere an diesem Werk? „Die systematische und differenzierte Weise, wie Radulfus Ardens die Tugenden und Laster aufgliedert und beschreibt, ist für die Zeit des 12. Jahrhunderts sicher einmalig“, so der Würzburger Professor. Einzigartig seien auch die durchgängigen Hinweise auf Komplementärtugenden. Damit sind Tugenden gemeint, die zu anderen Tugenden hinzukommen müssen, damit diese nicht in den Bereich des Lasters abgleiten.

Laut Radulfus muss sich etwa zur Sparsamkeit die Großzügigkeit gesellen, damit die Sparsamkeit nicht zum Geiz wird. Umgekehrt ist die Sparsamkeit für die Großzügigkeit wichtig, damit diese nicht zur Verschwendung wird. Gerechtigkeit bedarf als Ergänzung der Barmherzigkeit, damit sie nicht zu unmenschlicher Härte wird, und Barmherzigkeit bedarf der Gerechtigkeit, damit sie nicht zu ungerechter Laxheit führt. Tapferkeit bedarf der Ergänzung durch die Vorsicht, die Klugheit der Aufrichtigkeit usw. Auch solle der Mensch das richtige Maß zwischen Reden und Schweigen finden, um weder der Geschwätzigkeit noch der Stumpfheit anheimzufallen. Für mehr als 20 Tugenden führt Radulfus dieses Schema durch.

Aus heutiger Sicht ebenfalls überraschend: Radulfus vertrat die Ansicht, dass die moralische Bildung ein Produkt vieler äußerer Faktoren ist. Dazu zählte er unter anderem die Bedingungen, unter denen ein Mensch aufwächst, seine Anlagen und Begabungen, die Gegend, aus der jemand stammt, den Umgang, den man pflegt. „Diese Idee, dass auch die Anlagen sowie die natürliche und soziale Umwelt eine Persönlichkeit und ihr Handeln formen, war seinerzeit keineswegs selbstverständlich“, so Ernst. „Vielmehr wurde die Freiheit des Menschen oft einfach abstrakt und losgelöst von seiner Körperlichkeit, Geschichte und Gemeinschaftsbezogenheit betrachtet.“

Der Theologe Radulfus Ardens beschreibt in seinem Werk auch psychologische Mechanismen, etwa wie sich im Menschen – ausgehend von Gedanken und Wünschen – schließlich der Wille formiert. Er zeigt, dass das Böse und das Gute nicht einem völlig souveränen Willen entspringen, sondern dass der Mensch immer unter Einflüssen steht, die ihn in unterschiedliche Richtungen ziehen.

Stark am Nutzer orientiert

Unüblich war seinerzeit auch die starke Nutzerorientierung, die das Werk des Radulfus auszeichnet. „Es spricht einiges dafür, dass seine Schrift für die pastorale Ausbildung gemacht war. Auch hat sie ein deutliches didaktisches Anliegen“, sagt Ernst. Das merke man zum Beispiel daran, dass Radulfus dem Leser Gliederungsschemata an die Hand gibt, die man sich leicht merken kann. Das merke man aber auch an den vielen Schema-Zeichnungen (Gliederungs-„Bäume“), die im Unterricht offenbar manche Sachverhalte besser verdeutlichen sollten.

Das Werk des Radulfus ist in zehn Handschriften überliefert, die in Bibliotheken in Paris, Rom, Lissabon und Besançon aufbewahrt werden. Auf die Handschrift von Lissabon, die in früheren Arbeiten nicht berücksichtigt wurde, sind die Würzburger Wissenschaftler durch einen Hinweis in der Literatur aufmerksam geworden. Ein wahrer Glücksfall: Die Handschrift ist fast vollständig und gut lesbar. Sie ist damit oft eine Hilfe, wenn in den anderen Handschriften Unklarheiten über die richtige Lesart bestehen.

Unbekannter Radulfus

Der Vergleich der verschiedenen Versionen einer Handschrift ist ein aufwändiger Arbeitsschritt bei kritischen Editionsprojeken. Einiges an Zeit kosteten deshalb die genaue Beschreibung der vorhandenen Manuskripte sowie die Feststellung, wie die verschiedenen Handschriften voneinander abhängen. Aufwändig waren auch die Recherchen zur Person des Radulfus. Dabei konnten die Würzburger Wissenschaftler manche Angaben, die bisher als sicher galten und wie selbstverständlich übernommen wurden, aufgrund der Quellen relativieren: „Man weiß nicht viel über Radulfus; es gibt nicht einmal genaue Lebensdaten“, sagt Ernst.

Fest steht, dass Radulfus im 12. Jahrhundert in der Nähe von Poitiers (Frankreich) lebte und der Schule der Porretaner angehörte. Damit war er auch durch die fortschrittliche Schule von Chartres beeinflusst, die den Erkenntnissen der weltlichen Wissenschaften aufgeschlossen gegenüberstand. In dieser Schule wurden Texte antiker Philosophen offen rezipiert. Sie stellte zum Beispiel Platons Ideen zur Weltentstehung dem biblischen Schöpfungsbericht gegenüber, wobei sogar die Idee vertreten wurde, dass der Mensch das Produkt einer natürlichen Entwicklung sei – Gedanken zur Evolution also, noch viele Jahrhunderte vor Charles Darwin. Aber auch in der Ethik wurden Texte lateinischer Philosophen aufgegriffen und fruchtbar gemacht – oft unter dem Vorwand, daran Übungen in Grammatik durchzuführen. (Quelle: idw)

Buchtipp:
Der Widerhall des Urknalls: Spuren einer allumfassenden transzendenten Realität jenseits von Raum und Zeit

Merken