Frühreife ist weniger selten, als man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist. Erst die Besonderheit des Falls entscheidet über die Zugehörigkeit zum Wunder.
Ein höchst erstaunliches Phänomen früh erwachter Fähigkeiten war das Lübecker Wunderkind Christian Heinrich Heineken, das am 6. Februar 1721 geboren wurde. Schon als es zehn Monate zählte, kannte das Kind alle Gegenstände seiner Umgebung und wusste sie zu benennen. Es begann unter Anleitung seines Lehrers im fünfzehnten Monat das Studium der Weltgeschichte. Noch vor dem vollendeten dritten Lebensjahr kannte das Kind die dänische Geschichte, lernte bald darauf auch lateinisch und französisch sprechen, starb aber schon im fünften Lebensjahr.
Das Wunderkind aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, der spätere Hallesche Rechtslehrer und Danteforscher Karl Witte, der 1800 geboren wurde, hat aber sein Leben auf beinahe 83 Jahre gebracht. Er konnte schon mit vier Jahren Lateinisch reden, bezog, als er noch nicht 9½ Jahre alt war, die Universität und erwarb mit 14 Jahren in Gießen die philosophische Doktorwürde.
Blaise Pascal, der berühmte französische Mathematiker und Physiker, fand als Knabe die Elemente der euklidischen Geometrie; die Holzdiele seiner Kinderstube und ein Stück Kreide ersetzten ihm Anleitung und Lehrer. Als Siebzehnjähriger schrieb er eine Abhandlung über die Kegelschnitte.
Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß verfasste einen Teil der Untersuchungen aus seinem späteren berühmten Werk »Disquisitiones arithmeticae« als er noch Schüler war und über die leichtesten Elemente der Mathematik unterrichtet wurde.
Alexis Clairault, der später im Jahr 1736 mit Maupertuis die große Meridianmessung in Lappland ausführte, las im zwölften Lebensjahr der Akademie der Wissenschaften in Paris eine Abhandlung über neue Kurven vor und wurde als Achtzehnjähriger Mitglied dieser Akademie.
Lord Kelvin, der berühmte englische Physiker, bezog im Alter von zehn Jahren die Universität Glasgow, löste dort als Knabe eine Preisaufgabe über die Gestalt der Erde und schrieb mit achtzehn Jahren in Cambridge eine grundlegende Abhandlung zur Wärmetheorie.
Torquato Tasso, der bekannte italienische Dichter des 16. Jahrhunderts, soll »bereits als ein Kind von sechs Monaten geredet, in seinem dritten Jahr zu studieren angefangen, im siebenten Jahr aber für sich selbst Verse gemacht und öffentlich peroriert (d. h. Reden gehalten) haben.« Er war dreizehn Jahre alt, als er zur Universität kam, und siebzehn Jahre, als er den »Rinaldo« verfasste.
Der englische Dichter Pope begann schon mit zwölf Jahren zu schaffen. Victor Hugo dichtete, als er erst vierzehn Jahre alt war.
Besonders groß ist immer die Zahl der musikalischen Wunderkinder gewesen. Auf diesem Gebiet scheint Frühreife beinahe ein entscheidendes Kennzeichen der genialen Begabung zu sein. Freilich treten frühe Fertigkeiten nur äußerst selten so prachtvoll zutage wie bei Mozart, der 1756 in Salzburg geboren wurde.
In seinem sechsten Lebensjahr bereits komponierte der junge Wolfgang Amadeus kleine Stücke auf dem Klavier und besaß zugleich eine solche Fertigkeit im Spielen, dass der Vater mit ihm und einer älteren Schwester Konzertreisen unternahm. In München erntete der Knabe außerordentlichen Beifall, in Wien überschüttete der Kaiser Franz I. den Sechsjährigen mit Gunstbezeugungen. Als man ihm eine Geige schenkte, brachte er es auch auf diesem Instrument bald zu großer Fertigkeit. In Paris, wo er den König und den ganzen Hof durch sein Orgelspiel entzückte, veröffentlichte er 1763 seine ersten Kompositionen, Sonaten für Klavier. 1764, also acht Jahre alt, komponierte der junge Mozart während seines Aufenthalts in England sechs Klaviersonaten. Mit zehn Jahren schrieb er seine erste komische Oper »La finta semplice« und das heute noch viel gegebene Singspiel »Bastien und Bastienne«. 1769 ward er zum Konzertmeister am salzburgischen Hof ernannt. Eine glänzende Probe seines musikalischen Gedächtnisses gab er in seinem sechzehnten Lebensjahr, als er in Rom das vielstimmige »Miserere« von Allegri nach einmaligem Anhören notengetreu niederschrieb.
Auch Händel komponierte schon im achten Lebensjahr. Cherubinis erste Messe war das Werk eines noch nicht Dreizehnjährigen. Beethoven war zehn Jahre alt, als er seine ersten Sonaten schuf. Rossinis erste Oper, das Werk eines Zwölfjährigen, fand großen Erfolg.
(Quellen: Alexander Moszkowski: »Das Alterswunder« in der »Vossischen Zeitung« vom 12. 11. 1913. – Dr. Heinrich Klenz: »Frühreife Gelehrte und Dichter« in der »Vossischen Zeitung« vom 6. 2. 1916.)