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28.02.2024 13:47
Oral History zu lokaler Industriegeschichte: Nachfahren bekannter Unternehmensdynastien teilen familiäre Einblicke
Erbe, Auftrag, Last? – Eine Videoreihe der FernUniversität in Hagen illustriert die bewegte Industriegeschichte de Stadt: Fünf Nachfahren bekannter Unternehmerfamilien geben persönliche Einblicke in ihre Traditionslinie. Die Interviews sind ein Ergebnis des Forschungsprojekts „Hagener Köpfe: Industrialisierungsgeschichte als Familiengeschichte“, das das Institut für Geschichte und Biographie nach der sogenannten Oral-History-Methode umgesetzt hat. Die Ergebnisse können sich alle Interessierten nun frei zugänglich auf Youtube anschauen.
Wie es ist, einer alteingesessenen Hagener Industriellenfamilie anzugehören, das schildern fünf Nachfahren der Dynastien Harkort, Wälzholz, Osthaus und Eversbusch in persönlichen Videoporträts: „Hagener Köpfe: Industrialisierungsgeschichte als Familiengeschichte“. Für die Historikerin PD Dr. Eva Ochs von der FernUniversität war das Vorhaben eine Herzensangelegenheit. „Mich fasziniert einfach die Verbindung zwischen Familien und Unternehmen – das langsame Hineinwachsen, der Unternehmensalltag am Küchentisch.“ Warum treten am Ende doch so viele Kinder in die Fußstapfen ihrer Eltern? Wie fühlt es sich eigentlich an, einen so bekannten Familiennamen zu tragen? Und welche Rolle nehmen Frauen in der oft männerdominierten Unternehmensgeschichte ein? Als Wissenschaftlerin hat sie bereits viel zu solchen Fragen geforscht. So dreht sich etwa ihre Habilitationsschrift auch um Unternehmerfamilien im 19. Jahrhundert. Hinzu kommt ein guter Schuss Lokalpatriotismus: „Ich lebe sehr gerne in Hagen. In der Stadt begegnet man diesen Familien auf Schritt und Tritt, zum Beispiel in Form vieler historischer Gebäude.“ Die Funcke-Fabrik, das Varta-Gelände, die Papierfabrik Vorster, die Elbershallen, die Brandt-Brache, die Villa Bechem, der Hohenhof, das Haus Harkorten – die Liste eindrucksvoller Baudenkmäler ließe sich fortsetzen.
Eva Ochs konnte Christoph und Peter Eversbusch, Karin Harkort, Dr. Toni Junius (Geschäftsführer von Wälzholz) und Martin Duthweiler (Urenkel von Karl Ernst Osthaus) für die Interviews gewinnen. Finanziell gefördert wurde das Vorhaben von der Stadt Hagen und dem Regionalverband Ruhr (RVR) – jeweils mit 5000 Euro. Die fertigen Filme werden in verschiedene museale Projekte einbezogen – etwa in der Route Industriekultur des RVR.
Institut für Geschichte und Biographie ist Vorreiter
Die ungekürzten Fassungen der Zeitzeugeninterviews sind wichtige Quellen für die Forschung. Fortan bewahrt sie das Archiv Deutsches Gedächtnis auf, das zum Hagener Institut für Geschichte und Biographie gehört. Das „IGB“ gilt als wesentliche Keimzelle eines erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes, der fragt: Wie haben Menschen Geschichte erlebt? Lebensgeschichtliche Interviews, die nach der sogenannten Oral-History-Methode geführt werden, helfen dabei, Antworten zu finden. Die Hagener Forschenden haben über die Jahrzehnte einen immensen wissenschaftlichen Schatz aufgebaut. So verwaltet das Archiv Deutsches Gedächtnis mittlerweile allein über 3.700 Videos – hinzu kommen andere Zeugnisse wie Briefe, Tagebücher oder schriftliche Lebenserinnerungen. Derzeit arbeitet das IGB daran, den wertvollen Bestand nach und nach zu digitalisieren und online verfügbar zu machen.
Zwischen Fabrik und Wohnzimmer
Die Videos porträtieren fünf verschiedene Persönlichkeiten – dennoch gibt es Gemeinsamkeiten in den Lebenswegen: „Der Prozess, wie man ins Familienunternehmen hineinwächst, ähnelt sich sehr“, vergleicht Eva Ochs. Die Sozialisation beginnt früh und auf scheinbar natürliche Weise: „Zum Beispiel waren sowohl die Nachkommen von Wälzholz als auch von Eversbusch schon als kleine Kinder in der Fabrik beziehungsweise Brennerei mit dabei.“ Die Kleinen schauen früh die Handgriffe der Väter ab, mischen sich unter die Arbeiter, fast als wären auch diese Teil der Familie. „Die Kinder sind ständig in den Betrieben präsent, saugen alles in sich auf, übernehmen dann später Ferienjobs bei ihren Eltern – das alles scheint fast automatisch zu passieren.“ Eine Trennung zwischen privater und geschäftlicher Sphäre, zwischen Heim und Arbeit gibt es eigentlich nicht. „Das Unternehmen strukturiert den gesamten Familienalltag.“
Kampf durch unsichere Zeiten
Die Familiengeschichten selbst sind keine linearen Aufstiegserzählungen, sondern mindestens von einem Auf und Ab, teilweise auch von herben Einschnitten und Niederlagen geprägt. So büßte etwa die Dynastie der Familie Osthaus nach dem frühen Tod des Mäzens ihre immense wirtschaftliche und kulturelle Relevanz, die sie um die Jahrhundertwende aufgebaut hatte, fast vollständig ein. Derlei Entwicklungen lassen sich oft auch mit der allgemeinen Historie der Stadt in Beziehung setzen. „1914 stand die Stadt in voller Blüte“, erinnert Ochs. „Alle haben an Hagen geglaubt!“ Allerdings dämpften Ereignisse wie der Weltkrieg, die galoppierende Inflation oder die Ruhrbesetzung das Potenzial der industriell geprägten Region. Schwierige Fahrwasser, in denen sich auch die Hagener Unternehmerfamilien irgendwie zurechtfinden mussten. Einige gingen gemeinsam mit der Weimarer Republik unter – auch das ein Erbe, mit dem Nachfahren noch heute umgehen müssen.
Rolle der Frauen
Ein Aspekt, der die Historikerin besonders interessiert, ist die Rolle der Frauen. Denn freilich sind die weiblichen Persönlichkeiten mehr als nur „gute Partien“ mit fetter Mitgift. Oft stärken gerade Frauen das familiäre Rückgrat maßgeblich, halten die Dynastie im Hintergrund zusammen. „Sie übernehmen die Firmen zwar nicht, aber sind dennoch immer involviert.“ Auch die gesellschaftliche Strahlkraft der finanzkräftigen und gebildeten Frauen ist nicht zu vernachlässigen: „Manchmal wirken sie zum Beispiel als Mäzeninnen im sozialen Bereich.“
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Institut für Geschichte und Biographie
PD Dr. Eva Ochs
E-Mail: eva.ochs@fernuni-hagen.de
Fon: +49 2331 987-2547
Weitere Informationen:
https://www.fernuni-hagen.de/universitaet/aktuelles/2024/02/am-hagener-koepfe.sh…, weiterführender Text
Bilder
Erben einer Brennerei: Peter und Christoph Eversbusch
FernUniversität
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, jedermann
Geschichte / Archäologie, Kulturwissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften
überregional
Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
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