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17.06.2024 11:04
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Schwere COVID-19-Verläufe: Neutrophile im Dauereinsatz
Der Verlauf von Infektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 hängt nicht nur von der Aggressivität des Virus ab, sondern auch von den Immunreaktionen der Infizierten. Die Forschungsgruppe um Samantha Praktiknjo vom Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), Markus Landthaler vom Max Delbrück Center sowie Jakob Trimpert von der Freien Universität Berlin konnte mittels Einzelzell-Analysen zwei Muster identifizieren, die für milde bzw. schwere Verläufe typisch sind. Die Wissenschaftler*innen haben quasi im Zeitraffer verfolgt, was molekularbiologisch von der Infektion bis hin zur Organschädigung geschieht.
Die Hauptakteure auf Zellebene sind neutrophile Granulozyten (Immunzellen) und Endothelzellen (Gefäßwandzellen), schreiben sie in „Cell Reports“.
Wer den Verlauf von Infektionen mit SARS-CoV-2 günstig beeinflussen will, braucht Informationen über die Frühphase der Erkrankung. Untersuchungen an Patient*innen, die bereits an COVID-19 erkrankt sind, greifen hier zu spät. Am Tiermodell dagegen lässt sich kontrolliert verfolgen, was ab der Infektion geschieht. „Mittels Einzelzell-RNA-Analysen können wir die Genexpression in vielen einzelnen Zellen erfassen und die molekularbiologischen Vorgänge im Infektionsverlauf beobachten“, erklärt Dr. Samantha Praktiknjo, Forscherin am Berlin Institute of Health in der Charité und Letztautorin einer gerade veröffentlichten Studie, an der Wissenschaftler*innen von BIH, Max Delbrück Center, Charité – Universitätsmedizin Berlin und Freier Universität Berlin beteiligt waren.
„Unsere Studie zeigt, wie leistungsstark die Kombination von Einzelzelltechnologien und modernster bioinformatischer Analyse ist, um komplexe Krankheiten wie die massiven Lungenentzündungen bei COVID-19 zu erforschen“, sagt Professor Markus Landthaler, Forschungsgruppenleiter am Max Delbrück Center und ebenfalls Letztautor der Studie in „Cell Reports“.
Einzelzellsequenzierungen von Lungenproben
Die Wissenschaftler*innen haben verfügbare Humandaten, die durch Analysen von bronchoalveolärer Flüssigkeit und Nasenabstrichen sowie Post-mortem-Untersuchungen der Lunge gewonnen wurden, systematisch mit den am Tiermodell gewonnenen Daten abgeglichen und ihre Relevanz für den Menschen überprüft. Als Tiermodell für COVID-19 haben sich Hamster als geeignet erwiesen, da sie mit denselben Varianten des Coronavirus infiziert werden können wie der Mensch und ein ähnliches Krankheitsbild zeigen. Per Einzelzell-RNA-Sequenzierung untersuchten die Forscher*innen Lungenbiopsien von gesunden und infizierten Tieren zu verschiedenen Zeitpunkten nach der Infektion. Sie verglichen die dynamischen zellulären und molekularen Prozesse bei zwei verschiedenen Hamsterspezies: beim Goldhamster, der milde COVID-19-Verläufe zeigt, und beim Roborovski-Zwerghamster, bei dem die Erkrankung regelhaft schwer verläuft.
Mittels Einzelzell-RNA-Sequenzierung lässt sich herausfinden, welche Abschnitte der Erbinformation die jeweiligen Zellen zum Zeitpunkt der Entnahme gerade aktiviert haben. Dies ermöglicht einen Überblick darüber, was in den verschiedenen Zellen einer Gewebeprobe geschieht.
Die Forschung der letzten Jahre hat ergeben, dass für schwere Verläufe der COVID-19-Infektion nicht allein die Aggressivität des Virus verantwortlich ist. Auch Entzündungsreaktionen des Wirtsorganismus spielen eine Rolle. Entzündungen sind für die Erregerabwehr nötig und ganz normal. Aber wenn die Entzündung überschießt und große Mengen an entzündungsfördernden Botenstoffen freigesetzt werden, entstehen Schäden an unterschiedlichen Organen.
Frühe Weichenstellung für schweres COVID-19
Unbeantwortet war bislang die Frage, wie und wann genau die Weichenstellung für den schweren Krankheitsverlauf erfolgt. „Mit Hilfe tiefergehender Einzelzell-RNA-Analysen und neuartiger Methoden des maschinellen Lernens war es uns möglich, die Zellaktivitäten von der Infektion an zu charakterisieren“, erläutert BIH-Forscherin Dr. Samantha Praktiknjo. Tatsächlich konnten die Wissenschaftler*innen am Tiermodell zwei unterschiedliche Muster der Genaktivierung identifizieren. Sowohl bei leichten als auch bei schweren COVID-19-Verläufen werden kurz nach der Infektion die neutrophilen Granulozyten auf den Plan gerufen, die zur ersten Abwehrlinie der angeborenen Immunantwort gehören. Bei milden Verläufen werden die Neutrophilen kurz aktiviert. Dann jedoch übernehmen andere Immunzellen wie die natürlichen Killerzellen (Typ-1-Immunantwort). Bei schweren Verläufen dagegen bleiben die Neutrophilen dauerhaft im Action-Modus (Typ-3-Immunantwort). Das führt zu einer Überflutung mit proinflammatorischen Signalen und in der Lunge zu massiven Entzündungsreaktionen.
Typisch für schwere COVID-19-Verläufe sind Schäden an der Auskleidung der Blutgefäße, dem Endothel, an unterschiedlichen Organen. Die Forscher*innen stellten bei beiden Hamsterarten eine starke Aktivierung des Gefäßendothels der Lunge fest, die proinflammtorische Signale der neutrophilen Granulozyten ausgelöst hatten. Beim Roborovski-Hamster resultierten daraus schwere Endothelschäden; beim Goldhamster dagegen kehrten die Endothelzellen in den Ruhemodus zurück, ohne großen Schaden genommen zu haben. „Mit unserer Methodik haben wir die tragende Rolle der Endothelzellen im Krankheitsverlauf erstmals dokumentieren können“, unterstreicht Dr. Stefan Peidli, einer der Erstautor*innen der Studie.
„Unsere Studien bestätigen und erweitern die Erkenntnisse zur Rolle überschießender Immun- und Entzündungsreaktionen bei COVID-19“, ergänzt Dr. Samantha Praktiknjo. „Wir werden weiter in diese Richtung forschen und hoffen, dabei Ansatzpunkte für innovative Therapien zu finden, mit denen sich das Infektionsgeschehen frühzeitig in die richtigen Bahnen lenken lässt.“
Originalpublikation:
Stefan Peidli, Geraldine Nouailles, Emanuel Wyler, Julia M. Adler, Sandra Kunder, Anne Voß, Julia Kazmierski, Fabian Pott, Peter Pennitz, Dylan Postmus, Luiz Gustavo Teixeira Alves, Christine Goffinet, Achim D. Gruber, Nils Blüthgen, Martin Witzenrath, Jakob Trimpert, Markus Landthaler, Samantha D. Praktiknjo: Single-cell-resolved interspecies comparison shows a shared inflammatory axis and a dominant neutrophil-endothelial program in severe COVID-19, Cell Reports, Volume 43, Issue 6, 2024.
DOI: https://doi.org/10.1016/j.celrep.2024.114328
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Kontakt
Pressestelle
Berlin Institute of Health in der Charité (BIH)
Konstanze Pflüger: +49 (0)30 450 543 343
Katharina Kalhoff: +49 1515 7579574
Ole Kamm: +49 1522 5610126
pressestelle-bih@bih-charite.de
https://www.bihealth.org/
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Über das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH)
Die Mission des Berlin Institute of Health in der Charité (BIH) ist die medizinische Translation: Erkenntnisse aus der biomedizinischen Forschung werden in neue Ansätze zur personalisierten Vorhersage, Prävention, Diagnostik und Therapie übertragen, umgekehrt führen Beobachtungen im klinischen Alltag zu neuen Forschungsideen. Ziel ist es, einen relevanten medizinischen Nutzen für Patient*innen und Bürger*innen zu erreichen. Dazu etabliert das BIH als Translationsforschungsbereich in der Charité ein umfassendes translationales Ökosystem, setzt auf ein organübergreifendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit und fördert einen translationalen Kulturwandel in der biomedizinischen Forschung. Das BIH wurde 2013 gegründet und wird zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und zu zehn Prozent vom Land Berlin gefördert. Die Gründungsinstitutionen Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max Delbrück Center waren bis 2020 eigenständige Gliedkörperschaften im BIH. Seit 2021 ist das BIH als so genannte dritte Säule in die Charité integriert, das Max Delbrück Center ist Privilegierter Partner des BIH.
Über das Max Delbrück Center
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1800 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.
Originalpublikation:
Stefan Peidli, Geraldine Nouailles, Emanuel Wyler, Julia M. Adler, Sandra Kunder, Anne Voß, Julia Kazmierski, Fabian Pott, Peter Pennitz, Dylan Postmus, Luiz Gustavo Teixeira Alves, Christine Goffinet, Achim D. Gruber, Nils Blüthgen, Martin Witzenrath, Jakob Trimpert, Markus Landthaler, Samantha D. Praktiknjo: Single-cell-resolved interspecies comparison shows a shared inflammatory axis and a dominant neutrophil-endothelial program in severe COVID-19, Cell Reports, Volume 43, Issue 6, 2024.
DOI: https://doi.org/10.1016/j.celrep.2024.114328
Weitere Informationen:
https://www.bihealth.org/de/aktuell/schwere-covid-19-verlaeufe-neutrophile-im-da… Link zur Pressemitteilung
Bilder
Grafik © Polygraph Design
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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