22.07.2021 13:14
Überleben nach Herzstillstand – Freiburger Herzchirurg*innen entwickeln neue Technik
Forscher*innen der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg haben einen Therapieansatz entwickelt, mit dem Menschen nach einem Herzstillstand deutlich erfolgreicher als bisher reanimiert werden können – oft ohne neurologische Komplikationen / Studie in Nature Reviews Neuroscience fasst entscheidende Faktoren zusammen / Neue „Herz-Lungen-Maschine“ ermöglicht die klinische Umsetzung
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Rund 50.000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland einen plötzlichen Herzstillstand. Passiert er außerhalb eines Krankenhauses, liegen die Überlebenschancen bei nur zehn Prozent. Zudem leiden Überlebende oft unter schweren bleibenden neurologischen Schäden. Am 21. Juli 2021 haben Forscher*innen der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg gemeinsam mit deutschen und US-Kolleg*innen einen Übersichtsartikel im Fachmagazin Nature Reviews Neuroscience veröffentlicht, in dem sie die wichtigsten therapeutischen Faktoren für eine erfolgreiche Reanimation beschreiben. Das darauf basierende Therapie-Konzept bezeichnen die Wissenschaftler*innen als CARL (Controlled Automated Reperfusion of the whoLe Body). Zudem haben die Freiburger Ärzt*innen und Kardiotechniker*innen in den vergangenen Jahren eine spezielle und mobile Herz-Lungen-Maschine zur Reanimation entwickelt, mit der erstmals eine solche CARL-Therapie möglich ist. In einem der ersten Einsätze überlebte eine Person einen Herzstillstand nach rund 120-minütiger Reanimation erfolgreich. Die betroffene Person erlitt keine Schädigung des Gehirns.
„Nach jahrzehntelanger Forschung konnten wir in Freiburg eine neue Behandlungsmethode entwickeln, um die sonst üblichen Schäden nach Herzstillstand und Reanimation zu verringern. Unsere Erkenntnisse und das von uns entwickelte Gerät könnten von großer Bedeutung für die Notfallmedizin sein“, sagt Prof. Dr. Friedhelm Beyersdorf, Ärztlicher Direktor der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. „Diese CARL-Methode beinhaltet neueste Grundlagenforschungen und modernste herzchirurgische Techniken. Durch innovative eigene medizintechnische Entwicklungen haben wir nun die Möglichkeit, dieses neue Behandlungsprinzip innerhalb und außerhalb der Klinik anzuwenden. Damit besteht die Aussicht, dass Menschen nach einem Herzstillstand wesentlich länger und besser überleben können als man bisher angenommen hat“, so Beyersdorf.
Erfolgsfaktoren für eine Reanimation
Als Folge eines Herzstillstands schwellen die Blutgefäße im Gehirn an und sind dadurch weniger durchlässig für den Gasaustausch. „Durch einen hohen, pulsartigen Blutdruck während der kontrollierten Ganzkörper-Reperfusion (CARL-Therapie) können wir das Gehirn am schnellsten wieder versorgen“, sagt Beyersdorf. Der Sauerstoffgehalt muss niedrig sein und darf nur langsam gesteigert werden, da sonst freie Radikale im Gewebe entstehen. Diese sehr aggressiven Moleküle können dann unter anderem die Mitochondrien angreifen, die als Kraftwerke der Zellen fungieren. Auch eine reduzierte Kalziumkonzentration im Blut hilft, die Mitochondrien zu schützen. „Ganz wichtig ist es, die Körpertemperatur der Patient*innen möglichst rasch zu senken, um Stoffwechselprozesse zu verlangsamen“, erklärt der Freiburger Herzchirurg, der die Studie gemeinsam mit Kolleg*innen der Yale University, USA, und des Max-Planck-Instituts für Stoffwechselforschung publiziert hat.
CARL – Erstmals ist die Reanimationstherapie in ihrer Komplexität möglich
Einige der Aspekte waren grundsätzlich bekannt, allerdings nicht in der Detailtiefe. Zudem waren die vielen Therapieaspekte bislang technisch nicht realisierbar. Darum haben die Wissenschaftler*innen des Universitätsklinikums Freiburg vor einigen Jahren das Startup Resuscitec gegründet und dort ein Gerät entwickelt, das speziell die komplexen Anforderungen der Reanimation erfüllt: das CARL-System.
„CARL ist unseres Wissens das erste Gerät, das speziell für die Reanimation entwickelt wurde und die komplette Herz-Lungen-Funktion der Patient*innen übernehmen kann. Vor allem aber ist es weltweit das einzige Gerät, das eine Behandlung der Schäden ermöglicht, die durch den Herzstillstand und den damit einhergegangenen Sauerstoffmangel entstanden sind. Möglich ist das, weil wir sofort alle wichtigen Parameter wie etwa Blutwerte messen und steuern können, die für eine erfolgreiche Reanimation notwendig sind“, sagt Prof. Dr. Christoph Benk, Bereichsleiter Kardiotechnik der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. Eine einzigartige Doppelpumpensteuerung ermöglicht den notwendigen hohen pulsatilen Blutfluss und realisiert einen hohen Blutdruck. Der Sauerstoffgehalt kann präzise gesteuert werden und über eine mobile Kühleinheit lässt sich der Körper der Betroffenen schnell und sicher herunterkühlen. „Das Gerät ist in Größe und Gewicht so konzipiert, dass es im Rettungswagen Platz findet und direkt zu den Patient*innen getragen werden kann“, erklärt Benk.
Erste CARL-Einsätze machen große Hoffnung
In einer ersten Pilot-Studie konnten mit der CARL-Therapie viele der Betroffenen gerettet werden. Dabei war die Reanimationsdauer mit 50 bis 120 Minuten sehr lang. „Bei einem 43-jährigen Patienten war die Reanimation nach 70 Minuten erfolgreich. Der Patient ist wieder voll genesen und arbeitet wieder als Lehrer“, sagt Prof. Dr. Georg Trummer, Bereichsleiter Intensivmedizin der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. In einem anderen Fall erlitt eine Patientin zuhause einen Herzstillstand und wurde nach Ersthelfer-Reanimation per Helikopter ins Universitätsklinikum Freiburg gebracht. „Hier wurde die Patientin sofort an das CARL-Gerät angeschlossen und – nach 120 Minuten – erfolgreich reanimiert“, so Trummer. Die Patientin erlitt keine Schädigung des Gehirns und konnte in ihren Beruf zurückkehren. Um diese ersten vielversprechenden Ergebnisse abzusichern, ist nun im Rahmen des Horizon 2020-Programms der Europäischen Kommission eine Studie an drei europäischen Universitäten geplant.
Interessenskonflikte
Prof. Dr. Friedhelm Beyersdorf, Prof. Dr. Christoph Benk und Prof. Dr. Georg Trummer sind am Unternehmen Resuscitec beteiligt.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Friedhelm Beyersdorf
Ärztlicher Direktor
Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie
Universitäts-Herzzentrum Freiburg · Bad Krozingen
Universitätsklinikum Freiburg
Telefon: 0761 270-28180
friedhelm.beyersdorf@uniklinik-freiburg.de
Originalpublikation:
Original-Titel der Studie: Brain vulnerability and viability after ischemia
DOI: 10.1038/s41583-021-00488-y
Link zur Studie: www.nature.com/articles/s41583-021-00488-y
Weitere Informationen:
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28693585/ Publiziertes Fallbeispiel
Video: Prof. Dr. Friedhelm Beyersdorf fasst die Publikation zusammen
Video: Prof. Dr. Georg Trummer berichtet über die klinische Anwendung der CARL-Therapie
Video: Prof. Dr. Christoph Benk stellt technische Aspekte des CARL-Systems vor
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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