02.12.2020 08:59
Veränderte Prozesse im Gehirn nach Kreuzbandriss
Untersuchungen der Universität Paderborn legen neurophysiologische Veränderungen nach Knieverletzungen nah
Plötzlich gesund
Fortschreitende Naturerkenntnis, ganz allgemein gesprochen, ‘Wissenschaft’, ist der stärkste Feind des medizinischen Wunders. Was unseren Vorfahren als Wunder erschien, was einfache Naturvölker heute noch in heftige Erregung versetzt, das berührt den zivilisierten Menschen längst nicht mehr.
Doch es gibt einen Gegensatz, der jedem Denkenden sofort auffällt: der unerhörte, durchaus nicht abgeschlossene Aufstieg der wissenschaftlichen Heilkunde und die ebenso unerhörte Zunahme der Laienbehandlung und der Kurpfuscherei. Man schätzt die Zahl der Menschen, die der Schulmedizin kein Vertrauen schenken, auf immerhin 50 Prozent.
Wie kann es sein, daß Laienbehandler und Kurpfuscher immer wieder spektakuläre Erfolge aufweisen, von denen die Sensationspresse berichtet?
Der Autor geht dieser Frage nach und kommt zu interessanten Erkenntnissen, aus denen er Vorschläge für eine bessere Krankenbehandlung durch seine ärztlichen Standesgenossen ableitet.
Eine falsche Bewegung und das Kreuzband ist gerissen – eine folgenschwere Verletzung, die gerade bei Top-Athleten häufig auftritt. Trotz einer operativen Wiederherstellung oder Nachbildung der Fasern kommt es nicht selten zu anhaltenden Schmerzen und funktionellen Defiziten. Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass Letzteres auf Veränderungen bestimmter Verarbeitungsprozesse im Gehirn zurückzuführen sein könnte, wie Tim Lehmann vom Department Sport und Gesundheit der Universität Paderborn berichtet. Unter der Leitung von Prof. Dr. Jochen Baumeister erforscht der Wissenschaftler, wie solche neurophysiologischen Vorgänge ablaufen und wie sie mit dem motorischen Verhalten von Kreuzbandpatienten zusammenhängen.
Mechanismen der posturalen Kontrolle im Fokus
„Nach einer Operation haben viele Patienten Schwierigkeiten, die gewohnte Stabilität im Kniegelenk zu erreichen und weisen so eine verminderte Gleichgewichtsfähigkeit auf. Man nennt das auch posturale Kontrolle. Damit steigt das Risiko einer erneuten Verletzung des Kniegelenks, selbst nach Abschluss der Rehabilitation“, erklärt Lehmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Trainings- und Neurowissenschaften. Aktuelle Forschungsergebnisse weisen Lehmann zufolge nun auch auf veränderte Prozesse im Bereich der Großhirnrinde hin: „Die Defizite legen eine Umgestaltung komplexer sensomotorischer Netzwerke nah. Dazu zählen die Areale und deren Verknüpfungen, die mit der Wahrnehmung und Verarbeitung bestimmter Reize beschäftigt sind. Sie sind also für die Steuerung von Bewegungen zuständig. Während bisherige Studien überwiegend motorische Reaktionen untersucht haben, stehen in unseren Forschungsprojekten die neurophysiologischen Mechanismen der Gleichgewichtskontrolle im Fokus.“
Profisportler unter der Lupe
An den Untersuchungen nehmen Probanden aus unterschiedlichen Sportarten und Leistungsklassen teil: vom Kreisliga-Fußballer bis hin zum Handball-Weltmeister. Mithilfe sogenannter Kraftmessplatten berechnen die Experten Schwankungsparameter, um so die Gleichgewichtsfähigkeit der Sportler objektiv beurteilen zu können. „Über ein zusätzlich angebrachtes 3D-Kinematiksystem werden Gelenkwinkelveränderungen und Körpersegmentbeschleunigungen aufgezeichnet. Gleichzeitig wird mittels mobiler, nicht-invasiver Elektroenzephalographie (EEG) die Aktivität des Gehirns erfasst, um so einzelne Hirnareale, aber auch die funktionellen Verbindungen zwischen verschiedenen Arealen zu beschreiben“, erklärt Lehmann.
Bewegungssteuerung wird angepasst
Die Wissenschaftler haben bei den Kreuzbandpatienten in Abhängigkeit vom Standbein – verletzt oder unverletzt – unterscheidbare Verknüpfungsmuster im Gehirn gefunden. Je nachdem, ob das gesunde oder das verletzte Bein verwendet wurde, liefen bei den Probanden unterschiedliche Prozesse in der Schaltzentrale ab. Dazu Lehmann: „Das deutet darauf hin, dass die Kreuzbandpatienten möglicherweise vermehrt visuelle und somatosensorische, also die Körperwahrnehmung betreffende Informationen in kortikale Netzwerke einbeziehen, um so verletzungsbedingte Veränderungen im Kniegelenk auszugleichen. Einfach ausgedrückt: Das Gehirn passt seine Strategien zur Bewegungssteuerung an“.
Da die Rolle dieser Netzwerk-Modulationen bisher allerdings noch ungeklärt ist, sollen weitere Studien zur Überprüfung der Ergebnisse folgen. Langfristig soll die Paderborner Forschung den Boden für zukünftige Langzeitstudien zum funktionellen Fortschritt auf neurophysiologischer Ebene bereiten und wichtige Erkenntnisse für die Therapie liefern. Das Projekt läuft bis Ende nächsten Jahres.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Tim Lehmann, Department Sport und Gesundheit, Tel.: 05251 60-3186, E-Mail: tim.lehmann@upb.de
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler, jedermann
Medizin, Sportwissenschaft
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Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
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